Am 24. Mai. Wir brachen von unserem Nachtlager vor Sonnenaufgang auf. In einer Felsbucht, wo die Duri- mundi-Indianer gehaust hatten, war der aromatische Duft der Gewächse so stark, daß es uns lästig fiel, obgleich wir unter freiem Himmel lagen und bei unserer Gewöhnung an ein Leben voll Beschwerden unser Nervensysten eben nicht sehr reizbar war. Wir konnten nicht ermitteln, was für Blüten es waren, die diesen Geruch verbreiteten; der Wald war undurchdringlich. Bonpland glaubte, in den benachbarten Sümpfen werden große Büsche von Pancratium und einigen anderen Liliengewächsen stecken. Wir kamen sofort den Ori- noko abwärts zuerst am Einfluß des Cunucunumo, dann am Guanami und Puruname vorüber. Beide Ufer des Haupt- stroms sind völlig unbewohnt; gegen Norden erheben sich hohe Gebirge, gegen Süden dehnt sich, so weit das Auge reicht, eine Ebene bis über die Quellen des Atacavi hinaus, der weiter unten Atabapo heißt. Der Anblick eines Flusses, auf dem man nicht einmal einem Fischerboot begegnet, hat etwas Trauriges, Niederschlagendes. Unabhängige Völkerschaften, die Abirianos und Maquiritares, leben hier im Gebirgsland, aber auf den Grasfluren zwischen Cassiquiare, Atabapo, Ori- noko und Rio Negro findet man gegenwärtig fast keine Spur einer menschlichen Wohnung. Ich sage gegenwärtig; denn hier, wie anderswo in Guyana, findet man auf den härtesten Granitfelsen rohe Bilder eingegraben, welche Sonne, Mond und verschiedene Tiere vorstellen und darauf hinweisen, daß hier früher ein ganz anderes Volk lebte, als das wir an den Ufern des Orinoko kennen gelernt. Nach den Aussagen der Indianer und der verständigsten Missionare kommen diese symbolischen Bilder ganz mit denen überein, die wir 450 km weiter nördlich von Caycara, der Einmündung des Apure gegenüber, gesehen haben.
Die Ueberreste einer alten Kultur fallen um so mehr auf, je größer der Flächenraum ist, auf dem sie vorkommen, und je schärfer sie von der Verwilderung abstechen, in die wir seit der Eroberung alle Horden in den heißen östlichen Landstrichen Amerikas versunken sehen. 630 km ostwärts von den Ebenen am Cassiquiare und Conorichite, zwischen den Quellen des Rio Branco und des Rio Essequibo, findet man gleichfalls Felsen mit symbolischen Bildern. Ich ent- nehme diesen Umstand, der mir sehr merkwürdig scheint, dem Tagebuch des Reisenden Hortsmann, das mir in einer Ab-
Am 24. Mai. Wir brachen von unſerem Nachtlager vor Sonnenaufgang auf. In einer Felsbucht, wo die Duri- mundi-Indianer gehauſt hatten, war der aromatiſche Duft der Gewächſe ſo ſtark, daß es uns läſtig fiel, obgleich wir unter freiem Himmel lagen und bei unſerer Gewöhnung an ein Leben voll Beſchwerden unſer Nervenſyſten eben nicht ſehr reizbar war. Wir konnten nicht ermitteln, was für Blüten es waren, die dieſen Geruch verbreiteten; der Wald war undurchdringlich. Bonpland glaubte, in den benachbarten Sümpfen werden große Büſche von Pancratium und einigen anderen Liliengewächſen ſtecken. Wir kamen ſofort den Ori- noko abwärts zuerſt am Einfluß des Cunucunumo, dann am Guanami und Puruname vorüber. Beide Ufer des Haupt- ſtroms ſind völlig unbewohnt; gegen Norden erheben ſich hohe Gebirge, gegen Süden dehnt ſich, ſo weit das Auge reicht, eine Ebene bis über die Quellen des Atacavi hinaus, der weiter unten Atabapo heißt. Der Anblick eines Fluſſes, auf dem man nicht einmal einem Fiſcherboot begegnet, hat etwas Trauriges, Niederſchlagendes. Unabhängige Völkerſchaften, die Abirianos und Maquiritares, leben hier im Gebirgsland, aber auf den Grasfluren zwiſchen Caſſiquiare, Atabapo, Ori- noko und Rio Negro findet man gegenwärtig faſt keine Spur einer menſchlichen Wohnung. Ich ſage gegenwärtig; denn hier, wie anderswo in Guyana, findet man auf den härteſten Granitfelſen rohe Bilder eingegraben, welche Sonne, Mond und verſchiedene Tiere vorſtellen und darauf hinweiſen, daß hier früher ein ganz anderes Volk lebte, als das wir an den Ufern des Orinoko kennen gelernt. Nach den Ausſagen der Indianer und der verſtändigſten Miſſionare kommen dieſe ſymboliſchen Bilder ganz mit denen überein, die wir 450 km weiter nördlich von Caycara, der Einmündung des Apure gegenüber, geſehen haben.
Die Ueberreſte einer alten Kultur fallen um ſo mehr auf, je größer der Flächenraum iſt, auf dem ſie vorkommen, und je ſchärfer ſie von der Verwilderung abſtechen, in die wir ſeit der Eroberung alle Horden in den heißen öſtlichen Landſtrichen Amerikas verſunken ſehen. 630 km oſtwärts von den Ebenen am Caſſiquiare und Conorichite, zwiſchen den Quellen des Rio Branco und des Rio Eſſequibo, findet man gleichfalls Felſen mit ſymboliſchen Bildern. Ich ent- nehme dieſen Umſtand, der mir ſehr merkwürdig ſcheint, dem Tagebuch des Reiſenden Hortsmann, das mir in einer Ab-
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Am 24. Mai. Wir brachen von unſerem Nachtlager
vor Sonnenaufgang auf. In einer Felsbucht, wo die Duri-
mundi-Indianer gehauſt hatten, war der aromatiſche Duft
der Gewächſe ſo ſtark, daß es uns läſtig fiel, obgleich wir
unter freiem Himmel lagen und bei unſerer Gewöhnung an
ein Leben voll Beſchwerden unſer Nervenſyſten eben nicht
ſehr reizbar war. Wir konnten nicht ermitteln, was für
Blüten es waren, die dieſen Geruch verbreiteten; der Wald
war undurchdringlich. Bonpland glaubte, in den benachbarten
Sümpfen werden große Büſche von Pancratium und einigen
anderen Liliengewächſen ſtecken. Wir kamen ſofort den Ori-
noko abwärts zuerſt am Einfluß des Cunucunumo, dann am
Guanami und Puruname vorüber. Beide Ufer des Haupt-
ſtroms ſind völlig unbewohnt; gegen Norden erheben ſich
hohe Gebirge, gegen Süden dehnt ſich, ſo weit das Auge reicht,
eine Ebene bis über die Quellen des Atacavi hinaus, der
weiter unten Atabapo heißt. Der Anblick eines Fluſſes, auf
dem man nicht einmal einem Fiſcherboot begegnet, hat etwas
Trauriges, Niederſchlagendes. Unabhängige Völkerſchaften,
die Abirianos und Maquiritares, leben hier im Gebirgsland,
aber auf den Grasfluren zwiſchen Caſſiquiare, Atabapo, Ori-
noko und Rio Negro findet man gegenwärtig faſt keine Spur
einer menſchlichen Wohnung. Ich ſage gegenwärtig; denn
hier, wie anderswo in Guyana, findet man auf den härteſten
Granitfelſen rohe Bilder eingegraben, welche Sonne, Mond
und verſchiedene Tiere vorſtellen und darauf hinweiſen, daß
hier früher ein ganz anderes Volk lebte, als das wir an den
Ufern des Orinoko kennen gelernt. Nach den Ausſagen der
Indianer und der verſtändigſten Miſſionare kommen dieſe
ſymboliſchen Bilder ganz mit denen überein, die wir 450 km
weiter nördlich von Caycara, der Einmündung des Apure
gegenüber, geſehen haben.
Die Ueberreſte einer alten Kultur fallen um ſo mehr
auf, je größer der Flächenraum iſt, auf dem ſie vorkommen,
und je ſchärfer ſie von der Verwilderung abſtechen, in die
wir ſeit der Eroberung alle Horden in den heißen öſtlichen
Landſtrichen Amerikas verſunken ſehen. 630 km oſtwärts
von den Ebenen am Caſſiquiare und Conorichite, zwiſchen
den Quellen des Rio Branco und des Rio Eſſequibo, findet
man gleichfalls Felſen mit ſymboliſchen Bildern. Ich ent-
nehme dieſen Umſtand, der mir ſehr merkwürdig ſcheint, dem
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/106>, abgerufen am 26.06.2024.
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