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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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glaublich, daß man unruhig werden kann, wenn sie nicht da
sind, oder vielmehr wenn sie unerwartet verschwinden. In
Esmeralda erzählte man uns, im Jahre 1795 sei eine Stunde
vor Sonnenuntergang, wo sonst die Moskiten eine sehr dichte
Wolke bilden, die Luft auf einmal 20 Minuten lang ganz
frei gewesen. Kein einziges Insekt ließ sich blicken, und doch
war der Himmel wolkenlos und kein Wind deutete auf Regen.
Man muß in diesen Ländern selbst gelebt haben, um zu be-
greifen, in welchem Maße dieses plötzliche Verschwinden der
Insekten überraschen mußte. Man wünschte einander Glück,
man fragte sich, ob diese Felicidad, dieses Alivio (Erleichte-
rung) wohl von Dauer sein könne. Nicht lange aber, und
statt des Augenblickes zu genießen, fürchtete man sich vor
selbstgemachten Schreckbildern; man bildete sich ein, die Ord-
nung der Natur habe sich verkehrt. Alte Indianer, die Lokal-
gelehrten, behaupteten, das Verschwinden der Moskiten könne
nichts anderes bedeuten als ein großes Erdbeben. Man stritt
hitzig hin und her, man lauschte auf das leiseste Geräusch im
Baumlaub, und als sich die Luft wieder mit Moskiten füllte,
freute man sich ordentlich, daß sie wieder da waren. Welcher
Vorgang in der Atmosphäre mag nun diese Erscheinung ver-
ursacht haben, die man nicht damit verwechseln darf, daß zu
bestimmten Tageszeiten die eine Insektenart die andere ablöst?
Wir konnten diese Frage nicht beantworten, aber die lebendige
Schilderung der Einwohner war uns interessant. Mißtrauisch,
ängstlich, was ihm bevorstehen möge, seine alten Schmerzen
zurückwünschen, das ist so echt menschlich.

Bei unserem Abgange von Esmeralda war das Wetter
sehr stürmisch. Der Gipfel des Duida war in Wolken ge-
hüllt, aber diese schwarzen, stark verdichteten Dunstmassen
standen noch 1750 m über der Niederung. Schätzt man die
mittlere Höhe der Wolken, d. h. ihre untere Schicht, in ver-
schiedenen Zonen, so darf man nicht die zerstreuten einzelnen
Gruppen mit den Wolkendecken verwechseln, die gleichförmig
über den Niederungen gelagert sind und an eine Bergkette
stoßen. Nur die letzteren können sichere Resultate geben;
einzelne Wolkengruppen verfangen sich in Thälern, oft nur
durch die niedergehenden Luftströme. Wir sahen welche bei
der Stadt Caracas in 975 m Meereshöhe; es ist aber schwer
zu glauben, daß die Wolken, die man über den Küsten von
Cumana und der Insel Margarita sieht, nicht höher stehen
sollten. Das Gewitter, das sich am Gipfel des Duida entlud,

glaublich, daß man unruhig werden kann, wenn ſie nicht da
ſind, oder vielmehr wenn ſie unerwartet verſchwinden. In
Esmeralda erzählte man uns, im Jahre 1795 ſei eine Stunde
vor Sonnenuntergang, wo ſonſt die Moskiten eine ſehr dichte
Wolke bilden, die Luft auf einmal 20 Minuten lang ganz
frei geweſen. Kein einziges Inſekt ließ ſich blicken, und doch
war der Himmel wolkenlos und kein Wind deutete auf Regen.
Man muß in dieſen Ländern ſelbſt gelebt haben, um zu be-
greifen, in welchem Maße dieſes plötzliche Verſchwinden der
Inſekten überraſchen mußte. Man wünſchte einander Glück,
man fragte ſich, ob dieſe Felicidad, dieſes Alivio (Erleichte-
rung) wohl von Dauer ſein könne. Nicht lange aber, und
ſtatt des Augenblickes zu genießen, fürchtete man ſich vor
ſelbſtgemachten Schreckbildern; man bildete ſich ein, die Ord-
nung der Natur habe ſich verkehrt. Alte Indianer, die Lokal-
gelehrten, behaupteten, das Verſchwinden der Moskiten könne
nichts anderes bedeuten als ein großes Erdbeben. Man ſtritt
hitzig hin und her, man lauſchte auf das leiſeſte Geräuſch im
Baumlaub, und als ſich die Luft wieder mit Moskiten füllte,
freute man ſich ordentlich, daß ſie wieder da waren. Welcher
Vorgang in der Atmoſphäre mag nun dieſe Erſcheinung ver-
urſacht haben, die man nicht damit verwechſeln darf, daß zu
beſtimmten Tageszeiten die eine Inſektenart die andere ablöſt?
Wir konnten dieſe Frage nicht beantworten, aber die lebendige
Schilderung der Einwohner war uns intereſſant. Mißtrauiſch,
ängſtlich, was ihm bevorſtehen möge, ſeine alten Schmerzen
zurückwünſchen, das iſt ſo echt menſchlich.

Bei unſerem Abgange von Esmeralda war das Wetter
ſehr ſtürmiſch. Der Gipfel des Duida war in Wolken ge-
hüllt, aber dieſe ſchwarzen, ſtark verdichteten Dunſtmaſſen
ſtanden noch 1750 m über der Niederung. Schätzt man die
mittlere Höhe der Wolken, d. h. ihre untere Schicht, in ver-
ſchiedenen Zonen, ſo darf man nicht die zerſtreuten einzelnen
Gruppen mit den Wolkendecken verwechſeln, die gleichförmig
über den Niederungen gelagert ſind und an eine Bergkette
ſtoßen. Nur die letzteren können ſichere Reſultate geben;
einzelne Wolkengruppen verfangen ſich in Thälern, oft nur
durch die niedergehenden Luftſtröme. Wir ſahen welche bei
der Stadt Caracas in 975 m Meereshöhe; es iſt aber ſchwer
zu glauben, daß die Wolken, die man über den Küſten von
Cumana und der Inſel Margarita ſieht, nicht höher ſtehen
ſollten. Das Gewitter, das ſich am Gipfel des Duida entlud,

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[95/0103] glaublich, daß man unruhig werden kann, wenn ſie nicht da ſind, oder vielmehr wenn ſie unerwartet verſchwinden. In Esmeralda erzählte man uns, im Jahre 1795 ſei eine Stunde vor Sonnenuntergang, wo ſonſt die Moskiten eine ſehr dichte Wolke bilden, die Luft auf einmal 20 Minuten lang ganz frei geweſen. Kein einziges Inſekt ließ ſich blicken, und doch war der Himmel wolkenlos und kein Wind deutete auf Regen. Man muß in dieſen Ländern ſelbſt gelebt haben, um zu be- greifen, in welchem Maße dieſes plötzliche Verſchwinden der Inſekten überraſchen mußte. Man wünſchte einander Glück, man fragte ſich, ob dieſe Felicidad, dieſes Alivio (Erleichte- rung) wohl von Dauer ſein könne. Nicht lange aber, und ſtatt des Augenblickes zu genießen, fürchtete man ſich vor ſelbſtgemachten Schreckbildern; man bildete ſich ein, die Ord- nung der Natur habe ſich verkehrt. Alte Indianer, die Lokal- gelehrten, behaupteten, das Verſchwinden der Moskiten könne nichts anderes bedeuten als ein großes Erdbeben. Man ſtritt hitzig hin und her, man lauſchte auf das leiſeſte Geräuſch im Baumlaub, und als ſich die Luft wieder mit Moskiten füllte, freute man ſich ordentlich, daß ſie wieder da waren. Welcher Vorgang in der Atmoſphäre mag nun dieſe Erſcheinung ver- urſacht haben, die man nicht damit verwechſeln darf, daß zu beſtimmten Tageszeiten die eine Inſektenart die andere ablöſt? Wir konnten dieſe Frage nicht beantworten, aber die lebendige Schilderung der Einwohner war uns intereſſant. Mißtrauiſch, ängſtlich, was ihm bevorſtehen möge, ſeine alten Schmerzen zurückwünſchen, das iſt ſo echt menſchlich. Bei unſerem Abgange von Esmeralda war das Wetter ſehr ſtürmiſch. Der Gipfel des Duida war in Wolken ge- hüllt, aber dieſe ſchwarzen, ſtark verdichteten Dunſtmaſſen ſtanden noch 1750 m über der Niederung. Schätzt man die mittlere Höhe der Wolken, d. h. ihre untere Schicht, in ver- ſchiedenen Zonen, ſo darf man nicht die zerſtreuten einzelnen Gruppen mit den Wolkendecken verwechſeln, die gleichförmig über den Niederungen gelagert ſind und an eine Bergkette ſtoßen. Nur die letzteren können ſichere Reſultate geben; einzelne Wolkengruppen verfangen ſich in Thälern, oft nur durch die niedergehenden Luftſtröme. Wir ſahen welche bei der Stadt Caracas in 975 m Meereshöhe; es iſt aber ſchwer zu glauben, daß die Wolken, die man über den Küſten von Cumana und der Inſel Margarita ſieht, nicht höher ſtehen ſollten. Das Gewitter, das ſich am Gipfel des Duida entlud,

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/103>, abgerufen am 24.11.2024.