der Parime, die Sierra Mey, die Quellen, die vom Punkte an, wo sie aus dem Boden kommen, auseinanderlaufen -- von all dem weiß man in Esmeralda nichts. Immer hieß es, kein Mensch sei je ostwärts über den Raudal der Gua- haribos hinaufgekommen; oberhalb dieses Punktes komme, wie manche Indianer glauben, der Orinoko als ein kleiner Berg- strom von einem Gebirgsstocke herab, an dem die Corotos- indianer wohnen. Diese Umstände verdienen wohl Beachtung; denn wäre bei der königlichen Grenzexpedition oder nach dieser denkwürdigen Zeit ein weißer Mensch wirklich zu den Quellen des Orinoko und zu dem angeblichen See der Parime ge- kommen, so müßte sich die Erinnerung daran in der nächst- gelegenen Mission, über die man kommen mußte, um eine so wichtige Entdeckung zu machen, erhalten haben. Nun machen aber die drei Personen, die mit den Ergebnissen der Grenz- expedition bekannt wurden, Pater Caulin, La Cruz und Sur- ville, Angaben, die sich geradezu widersprechen. Wären solche Widersprüche denkbar, wenn diese Gelehrten, statt ihre Karten nach Annahmen und Hypothesen zu entwerfen, die in Madrid ausgeheckt worden, einen wirklichen Reisebericht vor Augen gehabt hätten? Pater Gili, der achtzehn Jahre (von 1749 bis 1767) am Orinoko gelebt hat, sagt ausdrücklich, "Don Apolinario Diez sei abgesandt worden, um die Quellen des Orinoko zu suchen; er habe ostwärts von Esmeralda den Strom voll Klippen gefunden; er habe aus Mangel an Lebensmitteln umgekehrt und von der Existenz eines Sees nichts, gar nichts vernommen". Diese Angabe stimmt voll- kommen mit dem, was ich fünfunddreißig Jahre später in Esmeralda gehört, wo Don Apolinarios Name noch im Munde aller Einwohner ist und von wo man fortwährend über den Einfluß des Gehete hinauffährt.
Die Wahrscheinlichkeit einer Thatsache vermindert sich bedeutend, wenn sich nachweisen läßt, daß man an dem Orte, wo man am besten damit bekannt sein müßte, nichts davon weiß, und wenn diejenigen, die sie mitteilen, sich widersprechen, nicht etwa in minder wesentlichen Umständen, sondern gerade in allen wichtigen. Ich verfolge diese rein geographische Er- örterung hier nicht weiter; ich werde in der Folge zeigen, wie die Verstöße auf den neuen Karten von der Sitte her- rühren, sie den alten nachzuzeichnen, wie Trageplätze für Fluß- verzweigungen gehalten wurden, wie man Flüsse, die bei den Indianern große Wasser heißen, in Seen verwandelte,
der Parime, die Sierra Mey, die Quellen, die vom Punkte an, wo ſie aus dem Boden kommen, auseinanderlaufen — von all dem weiß man in Esmeralda nichts. Immer hieß es, kein Menſch ſei je oſtwärts über den Raudal der Gua- haribos hinaufgekommen; oberhalb dieſes Punktes komme, wie manche Indianer glauben, der Orinoko als ein kleiner Berg- ſtrom von einem Gebirgsſtocke herab, an dem die Corotos- indianer wohnen. Dieſe Umſtände verdienen wohl Beachtung; denn wäre bei der königlichen Grenzexpedition oder nach dieſer denkwürdigen Zeit ein weißer Menſch wirklich zu den Quellen des Orinoko und zu dem angeblichen See der Parime ge- kommen, ſo müßte ſich die Erinnerung daran in der nächſt- gelegenen Miſſion, über die man kommen mußte, um eine ſo wichtige Entdeckung zu machen, erhalten haben. Nun machen aber die drei Perſonen, die mit den Ergebniſſen der Grenz- expedition bekannt wurden, Pater Caulin, La Cruz und Sur- ville, Angaben, die ſich geradezu widerſprechen. Wären ſolche Widerſprüche denkbar, wenn dieſe Gelehrten, ſtatt ihre Karten nach Annahmen und Hypotheſen zu entwerfen, die in Madrid ausgeheckt worden, einen wirklichen Reiſebericht vor Augen gehabt hätten? Pater Gili, der achtzehn Jahre (von 1749 bis 1767) am Orinoko gelebt hat, ſagt ausdrücklich, „Don Apolinario Diez ſei abgeſandt worden, um die Quellen des Orinoko zu ſuchen; er habe oſtwärts von Esmeralda den Strom voll Klippen gefunden; er habe aus Mangel an Lebensmitteln umgekehrt und von der Exiſtenz eines Sees nichts, gar nichts vernommen“. Dieſe Angabe ſtimmt voll- kommen mit dem, was ich fünfunddreißig Jahre ſpäter in Esmeralda gehört, wo Don Apolinarios Name noch im Munde aller Einwohner iſt und von wo man fortwährend über den Einfluß des Gehete hinauffährt.
Die Wahrſcheinlichkeit einer Thatſache vermindert ſich bedeutend, wenn ſich nachweiſen läßt, daß man an dem Orte, wo man am beſten damit bekannt ſein müßte, nichts davon weiß, und wenn diejenigen, die ſie mitteilen, ſich widerſprechen, nicht etwa in minder weſentlichen Umſtänden, ſondern gerade in allen wichtigen. Ich verfolge dieſe rein geographiſche Er- örterung hier nicht weiter; ich werde in der Folge zeigen, wie die Verſtöße auf den neuen Karten von der Sitte her- rühren, ſie den alten nachzuzeichnen, wie Trageplätze für Fluß- verzweigungen gehalten wurden, wie man Flüſſe, die bei den Indianern große Waſſer heißen, in Seen verwandelte,
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der Parime, die Sierra Mey, die Quellen, die vom Punkte
an, wo ſie aus dem Boden kommen, auseinanderlaufen —
von all dem weiß man in Esmeralda nichts. Immer hieß
es, kein Menſch ſei je oſtwärts über den Raudal der Gua-
haribos hinaufgekommen; oberhalb dieſes Punktes komme, wie
manche Indianer glauben, der Orinoko als ein kleiner Berg-
ſtrom von einem Gebirgsſtocke herab, an dem die Corotos-
indianer wohnen. Dieſe Umſtände verdienen wohl Beachtung;
denn wäre bei der königlichen Grenzexpedition oder nach dieſer
denkwürdigen Zeit ein weißer Menſch wirklich zu den Quellen
des Orinoko und zu dem angeblichen See der Parime ge-
kommen, ſo müßte ſich die Erinnerung daran in der nächſt-
gelegenen Miſſion, über die man kommen mußte, um eine
ſo wichtige Entdeckung zu machen, erhalten haben. Nun machen
aber die drei Perſonen, die mit den Ergebniſſen der Grenz-
expedition bekannt wurden, Pater Caulin, La Cruz und Sur-
ville, Angaben, die ſich geradezu widerſprechen. Wären ſolche
Widerſprüche denkbar, wenn dieſe Gelehrten, ſtatt ihre Karten
nach Annahmen und Hypotheſen zu entwerfen, die in Madrid
ausgeheckt worden, einen wirklichen Reiſebericht vor Augen
gehabt hätten? Pater Gili, der achtzehn Jahre (von 1749
bis 1767) am Orinoko gelebt hat, ſagt ausdrücklich, „Don
Apolinario Diez ſei abgeſandt worden, um die Quellen des
Orinoko zu ſuchen; er habe oſtwärts von Esmeralda den
Strom voll Klippen gefunden; er habe aus Mangel an
Lebensmitteln umgekehrt und von der Exiſtenz eines Sees
nichts, gar nichts vernommen“. Dieſe Angabe ſtimmt voll-
kommen mit dem, was ich fünfunddreißig Jahre ſpäter in
Esmeralda gehört, wo Don Apolinarios Name noch im
Munde aller Einwohner iſt und von wo man fortwährend
über den Einfluß des Gehete hinauffährt.
Die Wahrſcheinlichkeit einer Thatſache vermindert ſich
bedeutend, wenn ſich nachweiſen läßt, daß man an dem Orte,
wo man am beſten damit bekannt ſein müßte, nichts davon
weiß, und wenn diejenigen, die ſie mitteilen, ſich widerſprechen,
nicht etwa in minder weſentlichen Umſtänden, ſondern gerade
in allen wichtigen. Ich verfolge dieſe rein geographiſche Er-
örterung hier nicht weiter; ich werde in der Folge zeigen,
wie die Verſtöße auf den neuen Karten von der Sitte her-
rühren, ſie den alten nachzuzeichnen, wie Trageplätze für Fluß-
verzweigungen gehalten wurden, wie man Flüſſe, die bei den
Indianern große Waſſer heißen, in Seen verwandelte,
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/101>, abgerufen am 16.02.2025.
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