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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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verkaufen und in voller Freiheit unter den Weißen zu leben,
und die Missionen stünden leer."

Diese Gründe mögen scheinbar etwas für sich haben,
richtig sind sie nicht. Will der Mensch der Vorteile des ge-
selligen Lebens genießen, so muß er allerdings seine natür-
lichen Rechte, seine frühere Unabhängigkeit zum Teil zum
Opfer bringen. Wird aber das Opfer, das man ihm auf-
erlegt, nicht durch die Vorteile der Civilisation aufgewogen,
so nährt der Wilde fort und fort den Wunsch, in die Wälder
zurückzukehren, in denen er geboren worden. Weil der In-
dianer aus den Wäldern in den meisten Missionen als ein
Leibeigener behandelt wird, weil er der Früchte seiner Arbeit
nicht froh wird, deshalb veröden die christlichen Niederlassungen
am Orinoko. Ein Regiment, das sich auf die Vernichtung
der Freiheit der Eingeborenen gründet, tötet die Geisteskräfte
oder hemmt doch ihre Entwickelung.

Wenn man sagt, der Wilde müsse wie das Kind unter
strenger Zucht gehalten werden, so ist dies ein unrichtiger
Vergleich. Die Indianer am Orinoko haben in den Aeuße-
rungen ihrer Freude, im raschen Wechsel ihrer Gemütsbewe-
gungen etwas Kindliches; sie sind aber keineswegs große Kinder,
so wenig als die armen Bauern im östlichen Europa, die in
der Barbarei des Feudalsystemes sich der tiefsten Verkommen-
heit nicht entringen können. Zwang, als hauptsächlichstes
und einziges Mittel zur Sittigung des Wilden, erscheint zu-
dem als ein Grundsatz, der bei der Erziehung der Völker und
bei der Erziehung der Jugend gleich falsch ist. Wie schwach
und wie tief gesunken auch der Mensch sein mag, keine Fähig-
keit ist ganz erstorben. Die menschliche Geisteskraft ist nur
dem Grade und der Entwickelung nach verschieden. Der Wilde,
wie das Kind, vergleicht den gegenwärtigen Zustand mit dem
vergangenen; er bestimmt seine Handlungen nicht nach blindem
Instinkt, sondern nach Rücksichten der Nützlichkeit. Unter
allen Umständen kann Vernunft durch Vernunft aufgeklärt
werden; die Entwickelung derselben wird aber desto mehr
niedergehalten, je weiter diejenigen, die sich zur Erziehung der
Jugend oder zur Regierung der Völker berufen glauben, im
hochmütigen Gefühl ihrer Ueberlegenheit auf die ihnen Unter-
gebenen herabblicken und Zwang oder Gewalt brauchen statt
der sittlichen Mittel, die allein keimende Fähigkeiten entwickeln,
die aufgeregten Leidenschaften sänftigen und die gesellschaft-
liche Ordnung befestigen können.


verkaufen und in voller Freiheit unter den Weißen zu leben,
und die Miſſionen ſtünden leer.“

Dieſe Gründe mögen ſcheinbar etwas für ſich haben,
richtig ſind ſie nicht. Will der Menſch der Vorteile des ge-
ſelligen Lebens genießen, ſo muß er allerdings ſeine natür-
lichen Rechte, ſeine frühere Unabhängigkeit zum Teil zum
Opfer bringen. Wird aber das Opfer, das man ihm auf-
erlegt, nicht durch die Vorteile der Civiliſation aufgewogen,
ſo nährt der Wilde fort und fort den Wunſch, in die Wälder
zurückzukehren, in denen er geboren worden. Weil der In-
dianer aus den Wäldern in den meiſten Miſſionen als ein
Leibeigener behandelt wird, weil er der Früchte ſeiner Arbeit
nicht froh wird, deshalb veröden die chriſtlichen Niederlaſſungen
am Orinoko. Ein Regiment, das ſich auf die Vernichtung
der Freiheit der Eingeborenen gründet, tötet die Geiſteskräfte
oder hemmt doch ihre Entwickelung.

Wenn man ſagt, der Wilde müſſe wie das Kind unter
ſtrenger Zucht gehalten werden, ſo iſt dies ein unrichtiger
Vergleich. Die Indianer am Orinoko haben in den Aeuße-
rungen ihrer Freude, im raſchen Wechſel ihrer Gemütsbewe-
gungen etwas Kindliches; ſie ſind aber keineswegs große Kinder,
ſo wenig als die armen Bauern im öſtlichen Europa, die in
der Barbarei des Feudalſyſtemes ſich der tiefſten Verkommen-
heit nicht entringen können. Zwang, als hauptſächlichſtes
und einziges Mittel zur Sittigung des Wilden, erſcheint zu-
dem als ein Grundſatz, der bei der Erziehung der Völker und
bei der Erziehung der Jugend gleich falſch iſt. Wie ſchwach
und wie tief geſunken auch der Menſch ſein mag, keine Fähig-
keit iſt ganz erſtorben. Die menſchliche Geiſteskraft iſt nur
dem Grade und der Entwickelung nach verſchieden. Der Wilde,
wie das Kind, vergleicht den gegenwärtigen Zuſtand mit dem
vergangenen; er beſtimmt ſeine Handlungen nicht nach blindem
Inſtinkt, ſondern nach Rückſichten der Nützlichkeit. Unter
allen Umſtänden kann Vernunft durch Vernunft aufgeklärt
werden; die Entwickelung derſelben wird aber deſto mehr
niedergehalten, je weiter diejenigen, die ſich zur Erziehung der
Jugend oder zur Regierung der Völker berufen glauben, im
hochmütigen Gefühl ihrer Ueberlegenheit auf die ihnen Unter-
gebenen herabblicken und Zwang oder Gewalt brauchen ſtatt
der ſittlichen Mittel, die allein keimende Fähigkeiten entwickeln,
die aufgeregten Leidenſchaften ſänftigen und die geſellſchaft-
liche Ordnung befeſtigen können.


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[78/0086] verkaufen und in voller Freiheit unter den Weißen zu leben, und die Miſſionen ſtünden leer.“ Dieſe Gründe mögen ſcheinbar etwas für ſich haben, richtig ſind ſie nicht. Will der Menſch der Vorteile des ge- ſelligen Lebens genießen, ſo muß er allerdings ſeine natür- lichen Rechte, ſeine frühere Unabhängigkeit zum Teil zum Opfer bringen. Wird aber das Opfer, das man ihm auf- erlegt, nicht durch die Vorteile der Civiliſation aufgewogen, ſo nährt der Wilde fort und fort den Wunſch, in die Wälder zurückzukehren, in denen er geboren worden. Weil der In- dianer aus den Wäldern in den meiſten Miſſionen als ein Leibeigener behandelt wird, weil er der Früchte ſeiner Arbeit nicht froh wird, deshalb veröden die chriſtlichen Niederlaſſungen am Orinoko. Ein Regiment, das ſich auf die Vernichtung der Freiheit der Eingeborenen gründet, tötet die Geiſteskräfte oder hemmt doch ihre Entwickelung. Wenn man ſagt, der Wilde müſſe wie das Kind unter ſtrenger Zucht gehalten werden, ſo iſt dies ein unrichtiger Vergleich. Die Indianer am Orinoko haben in den Aeuße- rungen ihrer Freude, im raſchen Wechſel ihrer Gemütsbewe- gungen etwas Kindliches; ſie ſind aber keineswegs große Kinder, ſo wenig als die armen Bauern im öſtlichen Europa, die in der Barbarei des Feudalſyſtemes ſich der tiefſten Verkommen- heit nicht entringen können. Zwang, als hauptſächlichſtes und einziges Mittel zur Sittigung des Wilden, erſcheint zu- dem als ein Grundſatz, der bei der Erziehung der Völker und bei der Erziehung der Jugend gleich falſch iſt. Wie ſchwach und wie tief geſunken auch der Menſch ſein mag, keine Fähig- keit iſt ganz erſtorben. Die menſchliche Geiſteskraft iſt nur dem Grade und der Entwickelung nach verſchieden. Der Wilde, wie das Kind, vergleicht den gegenwärtigen Zuſtand mit dem vergangenen; er beſtimmt ſeine Handlungen nicht nach blindem Inſtinkt, ſondern nach Rückſichten der Nützlichkeit. Unter allen Umſtänden kann Vernunft durch Vernunft aufgeklärt werden; die Entwickelung derſelben wird aber deſto mehr niedergehalten, je weiter diejenigen, die ſich zur Erziehung der Jugend oder zur Regierung der Völker berufen glauben, im hochmütigen Gefühl ihrer Ueberlegenheit auf die ihnen Unter- gebenen herabblicken und Zwang oder Gewalt brauchen ſtatt der ſittlichen Mittel, die allein keimende Fähigkeiten entwickeln, die aufgeregten Leidenſchaften ſänftigen und die geſellſchaft- liche Ordnung befeſtigen können.

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859/86>, abgerufen am 24.04.2024.