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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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Sonne befördere das Eierlegen. Den ganzen Februar findet
man die Arrau fast den ganzen Tag auf dem Ufer. Zu
Anfang März vereinigen sich die zerstreuten Haufen und
schwimmen zu den wenigen Inseln, auf denen sie gewöhnlich
ihre Eier legen. Wahrscheinlich kommt dieselbe Schildkröte
jedes Jahr an dasselbe Ufer. Um diese Zeit, wenige Tage
vor dem Legen, erscheinen viele tausend Schildkröten in langen
Reihen an den Ufern der Inseln Cucuruparu, Uruana und
Pararuma, recken den Hals und halten den Kopf über dem
Wasser, ausschauend, ob nichts von Tigern oder Menschen zu
fürchten ist. Die Indianer, denen viel daran liegt, daß die
vereinigten Schwärme auch beisammen bleiben, daß sich die
Schildkröten nicht zerstreuen und in aller Ruhe ihre Eier
legen können, stellen längs des Ufers Wachen auf. Man be-
deutet den Fahrzeugen, sich mitten im Strome zu halten und
die Schildkröten nicht durch Geschrei zu verscheuchen. Die
Eier werden immer bei Nacht gelegt, aber gleich von Sonnen-
untergang an. Das Tier gräbt mit seinen Hinterfüßen, die
sehr lang sind und krumme Klauen haben, ein 1 m weites
und 60 cm tiefes Loch. Die Indianer behaupten, um den
Ufersand zu befestigen, benetze die Schildkröte denselben mit
ihrem Harn, und man glaubt solches am Geruche wahrzu-
nehmen, wenn man ein frisch gegrabenes Loch oder Eiernest,
wie man hier sagt, öffnet. Der Drang der Tiere zum Eier-
legen ist so stark, daß manche in die von anderen gegrabenen,
noch nicht wieder mit Erde ausgefüllten Löcher hinuntergehen
und auf die frisch gelegte Eierschicht noch eine zweite legen.
Bei diesem stürmischen Durcheinander werden ungeheuer viele
Eier zerbrochen. Der Missionär zeigte uns, indem er den
Sand an mehreren Stellen aufgrub, daß der Verlust ein
Dritteil der ganzen Ernte betragen mag. Durch das ver-
trocknete Gelb der zerbrochenen Eier backt der Sand noch
stärker zusammen, und wir fanden Quarzsand und zerbrochene
Eierschalen in großen Klumpen zusammengekittet. Der Tiere,
welche in der Nacht am Ufer graben, sind so unermeßlich viele,
daß manche der Tag überrascht, ehe sie mit dem Legen fertig
werden konnten. Da treibt sie der doppelte Drang, ihre Eier
los zu werden und die gegrabenen Löcher zuzudecken, damit
der Tiger sie nicht sehen möge. Die Schildkröten, die sich
verspätet haben, achten auf keine Gefahr, die ihnen selbst droht.
Sie arbeiten unter den Augen der Indianer, die frühmorgens
auf das Ufer kommen. Man nennt sie "närrische Schild-

Sonne befördere das Eierlegen. Den ganzen Februar findet
man die Arrau faſt den ganzen Tag auf dem Ufer. Zu
Anfang März vereinigen ſich die zerſtreuten Haufen und
ſchwimmen zu den wenigen Inſeln, auf denen ſie gewöhnlich
ihre Eier legen. Wahrſcheinlich kommt dieſelbe Schildkröte
jedes Jahr an dasſelbe Ufer. Um dieſe Zeit, wenige Tage
vor dem Legen, erſcheinen viele tauſend Schildkröten in langen
Reihen an den Ufern der Inſeln Cucuruparu, Uruana und
Pararuma, recken den Hals und halten den Kopf über dem
Waſſer, ausſchauend, ob nichts von Tigern oder Menſchen zu
fürchten iſt. Die Indianer, denen viel daran liegt, daß die
vereinigten Schwärme auch beiſammen bleiben, daß ſich die
Schildkröten nicht zerſtreuen und in aller Ruhe ihre Eier
legen können, ſtellen längs des Ufers Wachen auf. Man be-
deutet den Fahrzeugen, ſich mitten im Strome zu halten und
die Schildkröten nicht durch Geſchrei zu verſcheuchen. Die
Eier werden immer bei Nacht gelegt, aber gleich von Sonnen-
untergang an. Das Tier gräbt mit ſeinen Hinterfüßen, die
ſehr lang ſind und krumme Klauen haben, ein 1 m weites
und 60 cm tiefes Loch. Die Indianer behaupten, um den
Uferſand zu befeſtigen, benetze die Schildkröte denſelben mit
ihrem Harn, und man glaubt ſolches am Geruche wahrzu-
nehmen, wenn man ein friſch gegrabenes Loch oder Eierneſt,
wie man hier ſagt, öffnet. Der Drang der Tiere zum Eier-
legen iſt ſo ſtark, daß manche in die von anderen gegrabenen,
noch nicht wieder mit Erde ausgefüllten Löcher hinuntergehen
und auf die friſch gelegte Eierſchicht noch eine zweite legen.
Bei dieſem ſtürmiſchen Durcheinander werden ungeheuer viele
Eier zerbrochen. Der Miſſionär zeigte uns, indem er den
Sand an mehreren Stellen aufgrub, daß der Verluſt ein
Dritteil der ganzen Ernte betragen mag. Durch das ver-
trocknete Gelb der zerbrochenen Eier backt der Sand noch
ſtärker zuſammen, und wir fanden Quarzſand und zerbrochene
Eierſchalen in großen Klumpen zuſammengekittet. Der Tiere,
welche in der Nacht am Ufer graben, ſind ſo unermeßlich viele,
daß manche der Tag überraſcht, ehe ſie mit dem Legen fertig
werden konnten. Da treibt ſie der doppelte Drang, ihre Eier
los zu werden und die gegrabenen Löcher zuzudecken, damit
der Tiger ſie nicht ſehen möge. Die Schildkröten, die ſich
verſpätet haben, achten auf keine Gefahr, die ihnen ſelbſt droht.
Sie arbeiten unter den Augen der Indianer, die frühmorgens
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[52/0060] Sonne befördere das Eierlegen. Den ganzen Februar findet man die Arrau faſt den ganzen Tag auf dem Ufer. Zu Anfang März vereinigen ſich die zerſtreuten Haufen und ſchwimmen zu den wenigen Inſeln, auf denen ſie gewöhnlich ihre Eier legen. Wahrſcheinlich kommt dieſelbe Schildkröte jedes Jahr an dasſelbe Ufer. Um dieſe Zeit, wenige Tage vor dem Legen, erſcheinen viele tauſend Schildkröten in langen Reihen an den Ufern der Inſeln Cucuruparu, Uruana und Pararuma, recken den Hals und halten den Kopf über dem Waſſer, ausſchauend, ob nichts von Tigern oder Menſchen zu fürchten iſt. Die Indianer, denen viel daran liegt, daß die vereinigten Schwärme auch beiſammen bleiben, daß ſich die Schildkröten nicht zerſtreuen und in aller Ruhe ihre Eier legen können, ſtellen längs des Ufers Wachen auf. Man be- deutet den Fahrzeugen, ſich mitten im Strome zu halten und die Schildkröten nicht durch Geſchrei zu verſcheuchen. Die Eier werden immer bei Nacht gelegt, aber gleich von Sonnen- untergang an. Das Tier gräbt mit ſeinen Hinterfüßen, die ſehr lang ſind und krumme Klauen haben, ein 1 m weites und 60 cm tiefes Loch. Die Indianer behaupten, um den Uferſand zu befeſtigen, benetze die Schildkröte denſelben mit ihrem Harn, und man glaubt ſolches am Geruche wahrzu- nehmen, wenn man ein friſch gegrabenes Loch oder Eierneſt, wie man hier ſagt, öffnet. Der Drang der Tiere zum Eier- legen iſt ſo ſtark, daß manche in die von anderen gegrabenen, noch nicht wieder mit Erde ausgefüllten Löcher hinuntergehen und auf die friſch gelegte Eierſchicht noch eine zweite legen. Bei dieſem ſtürmiſchen Durcheinander werden ungeheuer viele Eier zerbrochen. Der Miſſionär zeigte uns, indem er den Sand an mehreren Stellen aufgrub, daß der Verluſt ein Dritteil der ganzen Ernte betragen mag. Durch das ver- trocknete Gelb der zerbrochenen Eier backt der Sand noch ſtärker zuſammen, und wir fanden Quarzſand und zerbrochene Eierſchalen in großen Klumpen zuſammengekittet. Der Tiere, welche in der Nacht am Ufer graben, ſind ſo unermeßlich viele, daß manche der Tag überraſcht, ehe ſie mit dem Legen fertig werden konnten. Da treibt ſie der doppelte Drang, ihre Eier los zu werden und die gegrabenen Löcher zuzudecken, damit der Tiger ſie nicht ſehen möge. Die Schildkröten, die ſich verſpätet haben, achten auf keine Gefahr, die ihnen ſelbſt droht. Sie arbeiten unter den Augen der Indianer, die frühmorgens auf das Ufer kommen. Man nennt ſie „närriſche Schild-

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859/60>, abgerufen am 26.04.2024.