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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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aus den Kernen derselben seien Männlein und Weiblein ent-
sprossen, welche die Erde wieder bevölkerten". In solch ein-
facher Gestalt lebt bei jetzt wilden Völkern eine Sage, welche
von den Griechen mit allem Reiz der Einbildungskraft ge-
schmückt worden ist. Ein paar Meilen von Encaramada steht
mitten in der Savanne ein Fels, der sogenannte Tepume-
reme, der gemalte Fels
. Man sieht darauf Tierbilder
und symbolische Zeichen, ähnlich denen, wie wir sie auf der
Rückfahrt auf dem Orinoko nicht weit unterhalb Encaramada
bei der Stadt Caycara gesehen. In Afrika heißen dergleichen
Felsen bei den Reisenden Fetischsteine. Ich vermeide den
Ausdruck, weil die Eingeborenen am Orinoko von einem
Fetischdienst nichts wissen, und weil die Bilder, die wir an
nunmehr unbewohnten Orten an Felsen gefunden, Sterne,
Sonnen, Tiger, Krokodile, mir keineswegs Gegenstände reli-
giöser Verehrung vorzustellen scheinen. Zwischen dem Cassi-
quiare und dem Orinoko, zwischen Encaramada, Capuchino
und Caycara sind die hieroglyphischen Figuren häufig sehr
hoch oben in Felswände eingehauen, wohin man nur mittels
sehr hoher Gerüste gelangen könnte. Fragt man nun die
Eingeborenen, wie es möglich gewesen sei, die Bilder einzu-
hauen, so erwidern sie lächelnd, als sprächen sie eine That-
sache aus, mit der nur ein Weißer nicht bekannt sein kann,
"zur Zeit des großen Wassers seien ihre Väter so hoch
oben im Kanoe gefahren".

Diese alten Sagen des Menschengeschlechtes, die wir gleich
Trümmern eines großen Schiffbruches über den Erdball zer-
streut finden, sind für die Geschichtsphilosophie von höchster
Bedeutung. Wie gewisse Pflanzenfamilien in allen Klimaten
und in den verschiedensten Meereshöhen das Gepräge des ge-
meinsamen Typus behalten, so haben die kosmogonischen
Ueberlieferungen der Völker aller Orten denselben Charakter,
eine Familienähnlichkeit, die uns in Erstaunen setzt. Im
Grundgedanken hinsichtlich der Vernichtung der lebendigen
Schöpfung und der Erneuerung der Natur weichen die Sagen
fast gar nicht ab, aber jedes Volk gibt ihnen eine örtliche
Färbung. Auf den großen Festländern wie auf den kleinsten
Inseln im Stillen Meere haben sich die übrig gebliebenen Men-
schen immer auf den höchsten Berg in der Nähe geflüchtet,
und das Ereignis erscheint desto neuer, je roher die Völker
sind und je weniger, was sie von sich selbst wissen, weit zurück-
reicht. Untersucht man die mexikanischen Denkmale aus der

aus den Kernen derſelben ſeien Männlein und Weiblein ent-
ſproſſen, welche die Erde wieder bevölkerten“. In ſolch ein-
facher Geſtalt lebt bei jetzt wilden Völkern eine Sage, welche
von den Griechen mit allem Reiz der Einbildungskraft ge-
ſchmückt worden iſt. Ein paar Meilen von Encaramada ſteht
mitten in der Savanne ein Fels, der ſogenannte Tepume-
reme, der gemalte Fels
. Man ſieht darauf Tierbilder
und ſymboliſche Zeichen, ähnlich denen, wie wir ſie auf der
Rückfahrt auf dem Orinoko nicht weit unterhalb Encaramada
bei der Stadt Caycara geſehen. In Afrika heißen dergleichen
Felſen bei den Reiſenden Fetiſchſteine. Ich vermeide den
Ausdruck, weil die Eingeborenen am Orinoko von einem
Fetiſchdienſt nichts wiſſen, und weil die Bilder, die wir an
nunmehr unbewohnten Orten an Felſen gefunden, Sterne,
Sonnen, Tiger, Krokodile, mir keineswegs Gegenſtände reli-
giöſer Verehrung vorzuſtellen ſcheinen. Zwiſchen dem Caſſi-
quiare und dem Orinoko, zwiſchen Encaramada, Capuchino
und Caycara ſind die hieroglyphiſchen Figuren häufig ſehr
hoch oben in Felswände eingehauen, wohin man nur mittels
ſehr hoher Gerüſte gelangen könnte. Fragt man nun die
Eingeborenen, wie es möglich geweſen ſei, die Bilder einzu-
hauen, ſo erwidern ſie lächelnd, als ſprächen ſie eine That-
ſache aus, mit der nur ein Weißer nicht bekannt ſein kann,
„zur Zeit des großen Waſſers ſeien ihre Väter ſo hoch
oben im Kanoe gefahren“.

Dieſe alten Sagen des Menſchengeſchlechtes, die wir gleich
Trümmern eines großen Schiffbruches über den Erdball zer-
ſtreut finden, ſind für die Geſchichtsphiloſophie von höchſter
Bedeutung. Wie gewiſſe Pflanzenfamilien in allen Klimaten
und in den verſchiedenſten Meereshöhen das Gepräge des ge-
meinſamen Typus behalten, ſo haben die kosmogoniſchen
Ueberlieferungen der Völker aller Orten denſelben Charakter,
eine Familienähnlichkeit, die uns in Erſtaunen ſetzt. Im
Grundgedanken hinſichtlich der Vernichtung der lebendigen
Schöpfung und der Erneuerung der Natur weichen die Sagen
faſt gar nicht ab, aber jedes Volk gibt ihnen eine örtliche
Färbung. Auf den großen Feſtländern wie auf den kleinſten
Inſeln im Stillen Meere haben ſich die übrig gebliebenen Men-
ſchen immer auf den höchſten Berg in der Nähe geflüchtet,
und das Ereignis erſcheint deſto neuer, je roher die Völker
ſind und je weniger, was ſie von ſich ſelbſt wiſſen, weit zurück-
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[47/0055] aus den Kernen derſelben ſeien Männlein und Weiblein ent- ſproſſen, welche die Erde wieder bevölkerten“. In ſolch ein- facher Geſtalt lebt bei jetzt wilden Völkern eine Sage, welche von den Griechen mit allem Reiz der Einbildungskraft ge- ſchmückt worden iſt. Ein paar Meilen von Encaramada ſteht mitten in der Savanne ein Fels, der ſogenannte Tepume- reme, der gemalte Fels. Man ſieht darauf Tierbilder und ſymboliſche Zeichen, ähnlich denen, wie wir ſie auf der Rückfahrt auf dem Orinoko nicht weit unterhalb Encaramada bei der Stadt Caycara geſehen. In Afrika heißen dergleichen Felſen bei den Reiſenden Fetiſchſteine. Ich vermeide den Ausdruck, weil die Eingeborenen am Orinoko von einem Fetiſchdienſt nichts wiſſen, und weil die Bilder, die wir an nunmehr unbewohnten Orten an Felſen gefunden, Sterne, Sonnen, Tiger, Krokodile, mir keineswegs Gegenſtände reli- giöſer Verehrung vorzuſtellen ſcheinen. Zwiſchen dem Caſſi- quiare und dem Orinoko, zwiſchen Encaramada, Capuchino und Caycara ſind die hieroglyphiſchen Figuren häufig ſehr hoch oben in Felswände eingehauen, wohin man nur mittels ſehr hoher Gerüſte gelangen könnte. Fragt man nun die Eingeborenen, wie es möglich geweſen ſei, die Bilder einzu- hauen, ſo erwidern ſie lächelnd, als ſprächen ſie eine That- ſache aus, mit der nur ein Weißer nicht bekannt ſein kann, „zur Zeit des großen Waſſers ſeien ihre Väter ſo hoch oben im Kanoe gefahren“. Dieſe alten Sagen des Menſchengeſchlechtes, die wir gleich Trümmern eines großen Schiffbruches über den Erdball zer- ſtreut finden, ſind für die Geſchichtsphiloſophie von höchſter Bedeutung. Wie gewiſſe Pflanzenfamilien in allen Klimaten und in den verſchiedenſten Meereshöhen das Gepräge des ge- meinſamen Typus behalten, ſo haben die kosmogoniſchen Ueberlieferungen der Völker aller Orten denſelben Charakter, eine Familienähnlichkeit, die uns in Erſtaunen ſetzt. Im Grundgedanken hinſichtlich der Vernichtung der lebendigen Schöpfung und der Erneuerung der Natur weichen die Sagen faſt gar nicht ab, aber jedes Volk gibt ihnen eine örtliche Färbung. Auf den großen Feſtländern wie auf den kleinſten Inſeln im Stillen Meere haben ſich die übrig gebliebenen Men- ſchen immer auf den höchſten Berg in der Nähe geflüchtet, und das Ereignis erſcheint deſto neuer, je roher die Völker ſind und je weniger, was ſie von ſich ſelbſt wiſſen, weit zurück- reicht. Unterſucht man die mexikaniſchen Denkmale aus der

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859/55>, abgerufen am 25.04.2024.