Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.Peru, Abessinien und Tibet beobachten. Dieser genaue ur- Siebenundzwanzig Kilometer von der Insel Piedra Raton Peru, Abeſſinien und Tibet beobachten. Dieſer genaue ur- Siebenundzwanzig Kilometer von der Inſel Piedra Raton <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0194" n="186"/> Peru, Abeſſinien und Tibet beobachten. Dieſer genaue ur-<lb/> ſachliche Zuſammenhang zwiſchen der Richtung der Ströme,<lb/> der Höhe und Stellung der anliegenden Gebirge, den Be-<lb/> wegungen der Atmoſphäre und der Salubrität des Klimas ver-<lb/> dient die größte Aufmerkſamkeit. Wie ermüdend und un-<lb/> fruchtbar wäre doch das Studium der Erdoberfläche und ihrer<lb/> Unebenheiten, wenn es nicht aus allgemeinen Geſichtspunkten<lb/> aufgefaßt würde!</p><lb/> <p>Siebenundzwanzig Kilometer von der Inſel Piedra Raton<lb/> kam zuerſt oſtwärts die Mündung des Rio Sipapo, den die<lb/> Indianer Tipapu nennen, dann weſtwärts die Mündung des<lb/> Rio Vichada. In der Nähe der letzteren bilden Felſen ganz<lb/> unter Waſſer einen kleinen Fall, einen <hi rendition="#g">Raudalito</hi>. Der Rio<lb/> Sipapo, den Pater Gili im Jahre 1757 hinauffuhr und der<lb/> nach ihm zweimal breiter iſt als der Tiber, kommt aus einer<lb/> ziemlich bedeutenden Bergkette. Im ſüdlichen Teil trägt die-<lb/> ſelbe den Namen des Fluſſes und verbindet ſich mit dem<lb/> Bergſtock des Calitamini und Cunavami. Nach dem Pik von<lb/> Duida, der über der Miſſion Esmeralda aufſteigt, ſchienen<lb/> mir die Cerros de Sipapo die höchſten in der ganzen Kor-<lb/> dillere der Parime. Sie bilden eine ungeheure Felsmauer, die<lb/> ſchroff aus der Ebene aufſteigt und deren von Süd-Süd-Oſt<lb/> nach Nord-Nord-Weſt gerichteten Kamm ausgezackt iſt. Ich<lb/> denke, aufgetürmte Granitblöcke bringen dieſe Einſchnitte, dieſe<lb/> Auszackung hervor, die man auch am Sandſtein des Mont-<lb/> ſerrat in Katalonien beobachtet. Jede Stunde war der An-<lb/> blick der Cerros de Sipapo wieder ein anderer. Bei Sonnen-<lb/> aufgang gibt der dichte Pflanzenwuchs den Bergen die dunkel-<lb/> grüne, ins Bräunliche ſpielende Farbe, wie ſie Landſtrichen<lb/> eigen iſt, wo Bäume mit lederartigen Blättern vorherrſchen.<lb/> Breite, ſcharfe Schatten fallen über die anſtoßende Ebene<lb/> und ſtechen ab vom glänzenden Licht, das auf dem Boden,<lb/> in der Luft und auf der Waſſerfläche verbreitet iſt. Aber<lb/> um die Mitte des Tages, wenn die Sonne den Zenith erreicht,<lb/> verſchwinden dieſe kräftigen Schatten allmählich und die ganze<lb/> Kette hüllt ſich in einen leiſen Duft, der weit ſatter blau iſt<lb/> als der niedrige Strich des Himmelsgewölbes. In dieſem um<lb/> den Felskamm ſchwebenden Duft verſchwimmen halb die Um-<lb/> riſſe, werden die Lichteffekte gedämpft, und ſo erhält die Land-<lb/> ſchaft das Gepräge der Ruhe und des Friedens, das in der<lb/> Natur, wie in den Werken Claude Lorrains und Pouſſins,<lb/> aus der Harmonie zwiſchen Form und Farbe entſpringt.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [186/0194]
Peru, Abeſſinien und Tibet beobachten. Dieſer genaue ur-
ſachliche Zuſammenhang zwiſchen der Richtung der Ströme,
der Höhe und Stellung der anliegenden Gebirge, den Be-
wegungen der Atmoſphäre und der Salubrität des Klimas ver-
dient die größte Aufmerkſamkeit. Wie ermüdend und un-
fruchtbar wäre doch das Studium der Erdoberfläche und ihrer
Unebenheiten, wenn es nicht aus allgemeinen Geſichtspunkten
aufgefaßt würde!
Siebenundzwanzig Kilometer von der Inſel Piedra Raton
kam zuerſt oſtwärts die Mündung des Rio Sipapo, den die
Indianer Tipapu nennen, dann weſtwärts die Mündung des
Rio Vichada. In der Nähe der letzteren bilden Felſen ganz
unter Waſſer einen kleinen Fall, einen Raudalito. Der Rio
Sipapo, den Pater Gili im Jahre 1757 hinauffuhr und der
nach ihm zweimal breiter iſt als der Tiber, kommt aus einer
ziemlich bedeutenden Bergkette. Im ſüdlichen Teil trägt die-
ſelbe den Namen des Fluſſes und verbindet ſich mit dem
Bergſtock des Calitamini und Cunavami. Nach dem Pik von
Duida, der über der Miſſion Esmeralda aufſteigt, ſchienen
mir die Cerros de Sipapo die höchſten in der ganzen Kor-
dillere der Parime. Sie bilden eine ungeheure Felsmauer, die
ſchroff aus der Ebene aufſteigt und deren von Süd-Süd-Oſt
nach Nord-Nord-Weſt gerichteten Kamm ausgezackt iſt. Ich
denke, aufgetürmte Granitblöcke bringen dieſe Einſchnitte, dieſe
Auszackung hervor, die man auch am Sandſtein des Mont-
ſerrat in Katalonien beobachtet. Jede Stunde war der An-
blick der Cerros de Sipapo wieder ein anderer. Bei Sonnen-
aufgang gibt der dichte Pflanzenwuchs den Bergen die dunkel-
grüne, ins Bräunliche ſpielende Farbe, wie ſie Landſtrichen
eigen iſt, wo Bäume mit lederartigen Blättern vorherrſchen.
Breite, ſcharfe Schatten fallen über die anſtoßende Ebene
und ſtechen ab vom glänzenden Licht, das auf dem Boden,
in der Luft und auf der Waſſerfläche verbreitet iſt. Aber
um die Mitte des Tages, wenn die Sonne den Zenith erreicht,
verſchwinden dieſe kräftigen Schatten allmählich und die ganze
Kette hüllt ſich in einen leiſen Duft, der weit ſatter blau iſt
als der niedrige Strich des Himmelsgewölbes. In dieſem um
den Felskamm ſchwebenden Duft verſchwimmen halb die Um-
riſſe, werden die Lichteffekte gedämpft, und ſo erhält die Land-
ſchaft das Gepräge der Ruhe und des Friedens, das in der
Natur, wie in den Werken Claude Lorrains und Pouſſins,
aus der Harmonie zwiſchen Form und Farbe entſpringt.
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