Peru, Abessinien und Tibet beobachten. Dieser genaue ur- sachliche Zusammenhang zwischen der Richtung der Ströme, der Höhe und Stellung der anliegenden Gebirge, den Be- wegungen der Atmosphäre und der Salubrität des Klimas ver- dient die größte Aufmerksamkeit. Wie ermüdend und un- fruchtbar wäre doch das Studium der Erdoberfläche und ihrer Unebenheiten, wenn es nicht aus allgemeinen Gesichtspunkten aufgefaßt würde!
Siebenundzwanzig Kilometer von der Insel Piedra Raton kam zuerst ostwärts die Mündung des Rio Sipapo, den die Indianer Tipapu nennen, dann westwärts die Mündung des Rio Vichada. In der Nähe der letzteren bilden Felsen ganz unter Wasser einen kleinen Fall, einen Raudalito. Der Rio Sipapo, den Pater Gili im Jahre 1757 hinauffuhr und der nach ihm zweimal breiter ist als der Tiber, kommt aus einer ziemlich bedeutenden Bergkette. Im südlichen Teil trägt die- selbe den Namen des Flusses und verbindet sich mit dem Bergstock des Calitamini und Cunavami. Nach dem Pik von Duida, der über der Mission Esmeralda aufsteigt, schienen mir die Cerros de Sipapo die höchsten in der ganzen Kor- dillere der Parime. Sie bilden eine ungeheure Felsmauer, die schroff aus der Ebene aufsteigt und deren von Süd-Süd-Ost nach Nord-Nord-West gerichteten Kamm ausgezackt ist. Ich denke, aufgetürmte Granitblöcke bringen diese Einschnitte, diese Auszackung hervor, die man auch am Sandstein des Mont- serrat in Katalonien beobachtet. Jede Stunde war der An- blick der Cerros de Sipapo wieder ein anderer. Bei Sonnen- aufgang gibt der dichte Pflanzenwuchs den Bergen die dunkel- grüne, ins Bräunliche spielende Farbe, wie sie Landstrichen eigen ist, wo Bäume mit lederartigen Blättern vorherrschen. Breite, scharfe Schatten fallen über die anstoßende Ebene und stechen ab vom glänzenden Licht, das auf dem Boden, in der Luft und auf der Wasserfläche verbreitet ist. Aber um die Mitte des Tages, wenn die Sonne den Zenith erreicht, verschwinden diese kräftigen Schatten allmählich und die ganze Kette hüllt sich in einen leisen Duft, der weit satter blau ist als der niedrige Strich des Himmelsgewölbes. In diesem um den Felskamm schwebenden Duft verschwimmen halb die Um- risse, werden die Lichteffekte gedämpft, und so erhält die Land- schaft das Gepräge der Ruhe und des Friedens, das in der Natur, wie in den Werken Claude Lorrains und Poussins, aus der Harmonie zwischen Form und Farbe entspringt.
Peru, Abeſſinien und Tibet beobachten. Dieſer genaue ur- ſachliche Zuſammenhang zwiſchen der Richtung der Ströme, der Höhe und Stellung der anliegenden Gebirge, den Be- wegungen der Atmoſphäre und der Salubrität des Klimas ver- dient die größte Aufmerkſamkeit. Wie ermüdend und un- fruchtbar wäre doch das Studium der Erdoberfläche und ihrer Unebenheiten, wenn es nicht aus allgemeinen Geſichtspunkten aufgefaßt würde!
Siebenundzwanzig Kilometer von der Inſel Piedra Raton kam zuerſt oſtwärts die Mündung des Rio Sipapo, den die Indianer Tipapu nennen, dann weſtwärts die Mündung des Rio Vichada. In der Nähe der letzteren bilden Felſen ganz unter Waſſer einen kleinen Fall, einen Raudalito. Der Rio Sipapo, den Pater Gili im Jahre 1757 hinauffuhr und der nach ihm zweimal breiter iſt als der Tiber, kommt aus einer ziemlich bedeutenden Bergkette. Im ſüdlichen Teil trägt die- ſelbe den Namen des Fluſſes und verbindet ſich mit dem Bergſtock des Calitamini und Cunavami. Nach dem Pik von Duida, der über der Miſſion Esmeralda aufſteigt, ſchienen mir die Cerros de Sipapo die höchſten in der ganzen Kor- dillere der Parime. Sie bilden eine ungeheure Felsmauer, die ſchroff aus der Ebene aufſteigt und deren von Süd-Süd-Oſt nach Nord-Nord-Weſt gerichteten Kamm ausgezackt iſt. Ich denke, aufgetürmte Granitblöcke bringen dieſe Einſchnitte, dieſe Auszackung hervor, die man auch am Sandſtein des Mont- ſerrat in Katalonien beobachtet. Jede Stunde war der An- blick der Cerros de Sipapo wieder ein anderer. Bei Sonnen- aufgang gibt der dichte Pflanzenwuchs den Bergen die dunkel- grüne, ins Bräunliche ſpielende Farbe, wie ſie Landſtrichen eigen iſt, wo Bäume mit lederartigen Blättern vorherrſchen. Breite, ſcharfe Schatten fallen über die anſtoßende Ebene und ſtechen ab vom glänzenden Licht, das auf dem Boden, in der Luft und auf der Waſſerfläche verbreitet iſt. Aber um die Mitte des Tages, wenn die Sonne den Zenith erreicht, verſchwinden dieſe kräftigen Schatten allmählich und die ganze Kette hüllt ſich in einen leiſen Duft, der weit ſatter blau iſt als der niedrige Strich des Himmelsgewölbes. In dieſem um den Felskamm ſchwebenden Duft verſchwimmen halb die Um- riſſe, werden die Lichteffekte gedämpft, und ſo erhält die Land- ſchaft das Gepräge der Ruhe und des Friedens, das in der Natur, wie in den Werken Claude Lorrains und Pouſſins, aus der Harmonie zwiſchen Form und Farbe entſpringt.
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Peru, Abeſſinien und Tibet beobachten. Dieſer genaue ur-
ſachliche Zuſammenhang zwiſchen der Richtung der Ströme,
der Höhe und Stellung der anliegenden Gebirge, den Be-
wegungen der Atmoſphäre und der Salubrität des Klimas ver-
dient die größte Aufmerkſamkeit. Wie ermüdend und un-
fruchtbar wäre doch das Studium der Erdoberfläche und ihrer
Unebenheiten, wenn es nicht aus allgemeinen Geſichtspunkten
aufgefaßt würde!
Siebenundzwanzig Kilometer von der Inſel Piedra Raton
kam zuerſt oſtwärts die Mündung des Rio Sipapo, den die
Indianer Tipapu nennen, dann weſtwärts die Mündung des
Rio Vichada. In der Nähe der letzteren bilden Felſen ganz
unter Waſſer einen kleinen Fall, einen Raudalito. Der Rio
Sipapo, den Pater Gili im Jahre 1757 hinauffuhr und der
nach ihm zweimal breiter iſt als der Tiber, kommt aus einer
ziemlich bedeutenden Bergkette. Im ſüdlichen Teil trägt die-
ſelbe den Namen des Fluſſes und verbindet ſich mit dem
Bergſtock des Calitamini und Cunavami. Nach dem Pik von
Duida, der über der Miſſion Esmeralda aufſteigt, ſchienen
mir die Cerros de Sipapo die höchſten in der ganzen Kor-
dillere der Parime. Sie bilden eine ungeheure Felsmauer, die
ſchroff aus der Ebene aufſteigt und deren von Süd-Süd-Oſt
nach Nord-Nord-Weſt gerichteten Kamm ausgezackt iſt. Ich
denke, aufgetürmte Granitblöcke bringen dieſe Einſchnitte, dieſe
Auszackung hervor, die man auch am Sandſtein des Mont-
ſerrat in Katalonien beobachtet. Jede Stunde war der An-
blick der Cerros de Sipapo wieder ein anderer. Bei Sonnen-
aufgang gibt der dichte Pflanzenwuchs den Bergen die dunkel-
grüne, ins Bräunliche ſpielende Farbe, wie ſie Landſtrichen
eigen iſt, wo Bäume mit lederartigen Blättern vorherrſchen.
Breite, ſcharfe Schatten fallen über die anſtoßende Ebene
und ſtechen ab vom glänzenden Licht, das auf dem Boden,
in der Luft und auf der Waſſerfläche verbreitet iſt. Aber
um die Mitte des Tages, wenn die Sonne den Zenith erreicht,
verſchwinden dieſe kräftigen Schatten allmählich und die ganze
Kette hüllt ſich in einen leiſen Duft, der weit ſatter blau iſt
als der niedrige Strich des Himmelsgewölbes. In dieſem um
den Felskamm ſchwebenden Duft verſchwimmen halb die Um-
riſſe, werden die Lichteffekte gedämpft, und ſo erhält die Land-
ſchaft das Gepräge der Ruhe und des Friedens, das in der
Natur, wie in den Werken Claude Lorrains und Pouſſins,
aus der Harmonie zwiſchen Form und Farbe entſpringt.
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 186. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859/194>, abgerufen am 16.02.2025.
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