Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

Bild:
<< vorherige Seite

"Wie gut muß im Mond wohnen sein!" sagte ein Sa-
liva-Indianer zu Pater Gumilla. "Er ist so schön und hell,
daß es dort gewiß keine Moskiten gibt." Diese Worte, die
dem Kindesalter eines Volkes angehören, sind sehr merk-
würdig. Ueberall ist der Trabant der Erde für den wilden
Amerikaner der Wohnplatz der Seligen, das Land des Ueber-
flusses. Der Eskimo, für den eine Planke, ein Baumstamm,
den die Strömung an eine pflanzenlose Küste geworfen, ein
Schatz ist, sieht im Monde waldbedeckte Ebenen; der Indianer
in den Wäldern am Orinoko sieht darin kahle Savannen,
deren Bewohner nie von Moskiten gestochen werden.

Weiterhin gegen Süd, wo das System der braungelben
Gewässer beginnt, gemeinhin schwarze Wasser (aguas
negras
) genannt, an den Ufern des Atabapo, Temi,
Tuamini und des Rio Negro, genossen wir einer Ruhe, ich
hätte bald gesagt eines Glückes, wie wir es gar nicht er-
wartet hatten. Diese Flüsse laufen wie der Orinoko durch
dichte Wälder; aber die Schnaken wie die Krokodile halten
sich von den "schwarzen Wassern" ferne. Kommen vielleicht
die Larven und Nymphen der Tipulä und Schnaken, die man
als eigentliche Wassertiere betrachten kann, in diesen Gewässern,
die ein wenig kühler sind als die weißen und sich chemisch
anders verhalten, nicht so gut fort? Einige kleine Flüsse, deren
Wasser entweder dunkelblau oder braungelb ist, der Toparo,
Mataveni und Zama, machen eine Ausnahme von der sonst ziem-
lich allgemeinen Regel, daß es über "schwarzem Wasser" keine
Moskiten gibt. An jenen drei Flüssen wimmelt es davon,
und selbst die Indianer machten uns auf die rätselhafte Er-
scheinung aufmerksam und ließen uns über deren Ursachen
nachdenken. Beim Herabfahren auf dem Rio Negro atmeten
wir frei in den Dörfern Maroa, Davipe und San Carlos
an der brasilianischen Grenze; allein diese Erleichterung unserer
Lage war von kurzer Dauer, und unsere Leiden begannen von
neuem, sobald wir in den Cassiquiare kamen. In Esmeralda,
am östlichen Ende des oberen Orinoko, wo die den Spaniern
bekannte Welt ein Ende hat, sind die Moskitowolken fast so
dick wie bei den großen Katarakten. In Mandavaca fanden
wir einen alten Missionär, der mit jammervoller Miene gegen
uns äußerte, er habe seine 20 Moskitojahre auf dem
Rücken
(ya tengo mis veinte annos de mosquitos). Er
forderte uns auf, seine Beine genau zu betrachten, damit wir
eines Tages "por alla" (über dem Meer) davon zu sagen

„Wie gut muß im Mond wohnen ſein!“ ſagte ein Sa-
liva-Indianer zu Pater Gumilla. „Er iſt ſo ſchön und hell,
daß es dort gewiß keine Moskiten gibt.“ Dieſe Worte, die
dem Kindesalter eines Volkes angehören, ſind ſehr merk-
würdig. Ueberall iſt der Trabant der Erde für den wilden
Amerikaner der Wohnplatz der Seligen, das Land des Ueber-
fluſſes. Der Eskimo, für den eine Planke, ein Baumſtamm,
den die Strömung an eine pflanzenloſe Küſte geworfen, ein
Schatz iſt, ſieht im Monde waldbedeckte Ebenen; der Indianer
in den Wäldern am Orinoko ſieht darin kahle Savannen,
deren Bewohner nie von Moskiten geſtochen werden.

Weiterhin gegen Süd, wo das Syſtem der braungelben
Gewäſſer beginnt, gemeinhin ſchwarze Waſſer (aguas
negras
) genannt, an den Ufern des Atabapo, Temi,
Tuamini und des Rio Negro, genoſſen wir einer Ruhe, ich
hätte bald geſagt eines Glückes, wie wir es gar nicht er-
wartet hatten. Dieſe Flüſſe laufen wie der Orinoko durch
dichte Wälder; aber die Schnaken wie die Krokodile halten
ſich von den „ſchwarzen Waſſern“ ferne. Kommen vielleicht
die Larven und Nymphen der Tipulä und Schnaken, die man
als eigentliche Waſſertiere betrachten kann, in dieſen Gewäſſern,
die ein wenig kühler ſind als die weißen und ſich chemiſch
anders verhalten, nicht ſo gut fort? Einige kleine Flüſſe, deren
Waſſer entweder dunkelblau oder braungelb iſt, der Toparo,
Mataveni und Zama, machen eine Ausnahme von der ſonſt ziem-
lich allgemeinen Regel, daß es über „ſchwarzem Waſſer“ keine
Moskiten gibt. An jenen drei Flüſſen wimmelt es davon,
und ſelbſt die Indianer machten uns auf die rätſelhafte Er-
ſcheinung aufmerkſam und ließen uns über deren Urſachen
nachdenken. Beim Herabfahren auf dem Rio Negro atmeten
wir frei in den Dörfern Maroa, Davipe und San Carlos
an der braſilianiſchen Grenze; allein dieſe Erleichterung unſerer
Lage war von kurzer Dauer, und unſere Leiden begannen von
neuem, ſobald wir in den Caſſiquiare kamen. In Esmeralda,
am öſtlichen Ende des oberen Orinoko, wo die den Spaniern
bekannte Welt ein Ende hat, ſind die Moskitowolken faſt ſo
dick wie bei den großen Katarakten. In Mandavaca fanden
wir einen alten Miſſionär, der mit jammervoller Miene gegen
uns äußerte, er habe ſeine 20 Moskitojahre auf dem
Rücken
(ya tengo mis veinte años de mosquitos). Er
forderte uns auf, ſeine Beine genau zu betrachten, damit wir
eines Tages „por alla” (über dem Meer) davon zu ſagen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0154" n="146"/>
          <p>&#x201E;Wie gut muß im Mond wohnen &#x017F;ein!&#x201C; &#x017F;agte ein Sa-<lb/>
liva-Indianer zu Pater Gumilla. &#x201E;Er i&#x017F;t &#x017F;o &#x017F;chön und hell,<lb/>
daß es dort gewiß keine Moskiten gibt.&#x201C; Die&#x017F;e Worte, die<lb/>
dem Kindesalter eines Volkes angehören, &#x017F;ind &#x017F;ehr merk-<lb/>
würdig. Ueberall i&#x017F;t der Trabant der Erde für den wilden<lb/>
Amerikaner der Wohnplatz der Seligen, das Land des Ueber-<lb/>
flu&#x017F;&#x017F;es. Der Eskimo, für den eine Planke, ein Baum&#x017F;tamm,<lb/>
den die Strömung an eine pflanzenlo&#x017F;e Kü&#x017F;te geworfen, ein<lb/>
Schatz i&#x017F;t, &#x017F;ieht im Monde waldbedeckte Ebenen; der Indianer<lb/>
in den Wäldern am Orinoko &#x017F;ieht darin kahle Savannen,<lb/>
deren Bewohner nie von Moskiten ge&#x017F;tochen werden.</p><lb/>
          <p>Weiterhin gegen Süd, wo das Sy&#x017F;tem der braungelben<lb/>
Gewä&#x017F;&#x017F;er beginnt, gemeinhin <hi rendition="#g">&#x017F;chwarze Wa&#x017F;&#x017F;er</hi> (<hi rendition="#aq">aguas<lb/>
negras</hi>) genannt, an den Ufern des Atabapo, Temi,<lb/>
Tuamini und des Rio Negro, geno&#x017F;&#x017F;en wir einer Ruhe, ich<lb/>
hätte bald ge&#x017F;agt eines Glückes, wie wir es gar nicht er-<lb/>
wartet hatten. Die&#x017F;e Flü&#x017F;&#x017F;e laufen wie der Orinoko durch<lb/>
dichte Wälder; aber die Schnaken wie die Krokodile halten<lb/>
&#x017F;ich von den &#x201E;&#x017F;chwarzen Wa&#x017F;&#x017F;ern&#x201C; ferne. Kommen vielleicht<lb/>
die Larven und Nymphen der Tipulä und Schnaken, die man<lb/>
als eigentliche Wa&#x017F;&#x017F;ertiere betrachten kann, in die&#x017F;en Gewä&#x017F;&#x017F;ern,<lb/>
die ein wenig kühler &#x017F;ind als die weißen und &#x017F;ich chemi&#x017F;ch<lb/>
anders verhalten, nicht &#x017F;o gut fort? Einige kleine Flü&#x017F;&#x017F;e, deren<lb/>
Wa&#x017F;&#x017F;er entweder dunkelblau oder braungelb i&#x017F;t, der Toparo,<lb/>
Mataveni und Zama, machen eine Ausnahme von der &#x017F;on&#x017F;t ziem-<lb/>
lich allgemeinen Regel, daß es über &#x201E;&#x017F;chwarzem Wa&#x017F;&#x017F;er&#x201C; keine<lb/>
Moskiten gibt. An jenen drei Flü&#x017F;&#x017F;en wimmelt es davon,<lb/>
und &#x017F;elb&#x017F;t die Indianer machten uns auf die rät&#x017F;elhafte Er-<lb/>
&#x017F;cheinung aufmerk&#x017F;am und ließen uns über deren Ur&#x017F;achen<lb/>
nachdenken. Beim Herabfahren auf dem Rio Negro atmeten<lb/>
wir frei in den Dörfern Maroa, Davipe und San Carlos<lb/>
an der bra&#x017F;iliani&#x017F;chen Grenze; allein die&#x017F;e Erleichterung un&#x017F;erer<lb/>
Lage war von kurzer Dauer, und un&#x017F;ere Leiden begannen von<lb/>
neuem, &#x017F;obald wir in den Ca&#x017F;&#x017F;iquiare kamen. In Esmeralda,<lb/>
am ö&#x017F;tlichen Ende des oberen Orinoko, wo die den Spaniern<lb/>
bekannte Welt ein Ende hat, &#x017F;ind die Moskitowolken fa&#x017F;t &#x017F;o<lb/>
dick wie bei den großen Katarakten. In Mandavaca fanden<lb/>
wir einen alten Mi&#x017F;&#x017F;ionär, der mit jammervoller Miene gegen<lb/>
uns äußerte, er <hi rendition="#g">habe &#x017F;eine 20 Moskitojahre auf dem<lb/>
Rücken</hi> (<hi rendition="#aq">ya tengo mis veinte años de mosquitos</hi>). Er<lb/>
forderte uns auf, &#x017F;eine Beine genau zu betrachten, damit wir<lb/>
eines Tages <hi rendition="#aq">&#x201E;por alla&#x201D;</hi> (über dem Meer) davon zu &#x017F;agen<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[146/0154] „Wie gut muß im Mond wohnen ſein!“ ſagte ein Sa- liva-Indianer zu Pater Gumilla. „Er iſt ſo ſchön und hell, daß es dort gewiß keine Moskiten gibt.“ Dieſe Worte, die dem Kindesalter eines Volkes angehören, ſind ſehr merk- würdig. Ueberall iſt der Trabant der Erde für den wilden Amerikaner der Wohnplatz der Seligen, das Land des Ueber- fluſſes. Der Eskimo, für den eine Planke, ein Baumſtamm, den die Strömung an eine pflanzenloſe Küſte geworfen, ein Schatz iſt, ſieht im Monde waldbedeckte Ebenen; der Indianer in den Wäldern am Orinoko ſieht darin kahle Savannen, deren Bewohner nie von Moskiten geſtochen werden. Weiterhin gegen Süd, wo das Syſtem der braungelben Gewäſſer beginnt, gemeinhin ſchwarze Waſſer (aguas negras) genannt, an den Ufern des Atabapo, Temi, Tuamini und des Rio Negro, genoſſen wir einer Ruhe, ich hätte bald geſagt eines Glückes, wie wir es gar nicht er- wartet hatten. Dieſe Flüſſe laufen wie der Orinoko durch dichte Wälder; aber die Schnaken wie die Krokodile halten ſich von den „ſchwarzen Waſſern“ ferne. Kommen vielleicht die Larven und Nymphen der Tipulä und Schnaken, die man als eigentliche Waſſertiere betrachten kann, in dieſen Gewäſſern, die ein wenig kühler ſind als die weißen und ſich chemiſch anders verhalten, nicht ſo gut fort? Einige kleine Flüſſe, deren Waſſer entweder dunkelblau oder braungelb iſt, der Toparo, Mataveni und Zama, machen eine Ausnahme von der ſonſt ziem- lich allgemeinen Regel, daß es über „ſchwarzem Waſſer“ keine Moskiten gibt. An jenen drei Flüſſen wimmelt es davon, und ſelbſt die Indianer machten uns auf die rätſelhafte Er- ſcheinung aufmerkſam und ließen uns über deren Urſachen nachdenken. Beim Herabfahren auf dem Rio Negro atmeten wir frei in den Dörfern Maroa, Davipe und San Carlos an der braſilianiſchen Grenze; allein dieſe Erleichterung unſerer Lage war von kurzer Dauer, und unſere Leiden begannen von neuem, ſobald wir in den Caſſiquiare kamen. In Esmeralda, am öſtlichen Ende des oberen Orinoko, wo die den Spaniern bekannte Welt ein Ende hat, ſind die Moskitowolken faſt ſo dick wie bei den großen Katarakten. In Mandavaca fanden wir einen alten Miſſionär, der mit jammervoller Miene gegen uns äußerte, er habe ſeine 20 Moskitojahre auf dem Rücken (ya tengo mis veinte años de mosquitos). Er forderte uns auf, ſeine Beine genau zu betrachten, damit wir eines Tages „por alla” (über dem Meer) davon zu ſagen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859/154
Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859/154>, abgerufen am 23.11.2024.