westwärts an der Küste, die gegen Kap Codera läuft, nehmen sie ungeheuer zu. Zwischen dem kleinen Hafen von Higuerote und der Mündung des Rio Unare haben die unglücklichen Einwohner den Brauch, sich bei Nacht auf die Erde zu legen und sich 8 bis 10 cm tief in den Sand zu begraben, so daß nur der Kopf frei bleibt, den sie mit einem Tuche bedecken. Man leidet vom Insektenstich, doch so, daß es leicht zu er- tragen ist, wenn man den Orinoko von Cabruta gegen Ango- stura hinunter und von Cabruta gegen Uruana hinauffährt zwischen dem 7. und 8. Grad der Breite. Aber über dem Einfluß des Rio Arauca, wenn man durch den Engpaß beim Baraguan kommt, wird es auf einmal anders, und von nun an findet der Reisende keine Ruhe mehr. Hat er poetische Stellen aus Dante im Kopfe, so mag ihm zu Mute sein, als hätte er die Citta dolente betreten, als ständen an den Felswänden beim Baraguan die merkwürdigen Verse aus dem 3. Buch der Hölle geschrieben:
Noi sem venuti al luogo, ov'i't'ho detto Che tu vedrai le genti dolorose.1
Die tiefen Luftschichten vom Boden bis zu 5 bis 7 m Höhe sind mit giftigen Insekten wie mit einem dichten Dunste angefüllt. Stellt man sich an einen dunklen Ort, z. B. in die Höhlen, die in den Katarakten durch die aufgetürmten Granitblöcke gebildet werden, und blickt man gegen die von der Sonne beleuchtete Oeffnung, so sieht man Wolken von Moskiten, die mehr oder weniger dicht werden, je nachdem die Tierchen bei ihren langsamen und taktmäßigen Bewegungen sich zusammen- oder auseinanderziehen. In der Mission San Borja hat man schon mehr von den Moskiten zu leiden als in Carichana; aber in den Raudales, in Atures, besonders aber in Maypures erreicht die Plage sozusagen ihr Maxi- mum. Ich zweifle, daß es ein Land auf Erden gibt, wo der Mensch grausamere Qualen zu erdulden hat als hier in der Regenzeit. Kommt man über den 5. Breitengrad hinauf, wird man etwas weniger zerstochen; aber am oberen Orinoko sind die Stiche schmerzlicher, weil bei der Hitze und der völli- gen Windstille die Luft glühender ist und die Haut, wo sie dieselbe berührt, mehr reizt.
1Inferno. C. III, 16.
A. v. Humboldt, Reise. III. 10
weſtwärts an der Küſte, die gegen Kap Codera läuft, nehmen ſie ungeheuer zu. Zwiſchen dem kleinen Hafen von Higuerote und der Mündung des Rio Unare haben die unglücklichen Einwohner den Brauch, ſich bei Nacht auf die Erde zu legen und ſich 8 bis 10 cm tief in den Sand zu begraben, ſo daß nur der Kopf frei bleibt, den ſie mit einem Tuche bedecken. Man leidet vom Inſektenſtich, doch ſo, daß es leicht zu er- tragen iſt, wenn man den Orinoko von Cabruta gegen Ango- ſtura hinunter und von Cabruta gegen Uruana hinauffährt zwiſchen dem 7. und 8. Grad der Breite. Aber über dem Einfluß des Rio Arauca, wenn man durch den Engpaß beim Baraguan kommt, wird es auf einmal anders, und von nun an findet der Reiſende keine Ruhe mehr. Hat er poetiſche Stellen aus Dante im Kopfe, ſo mag ihm zu Mute ſein, als hätte er die Città dolente betreten, als ſtänden an den Felswänden beim Baraguan die merkwürdigen Verſe aus dem 3. Buch der Hölle geſchrieben:
Noi sem venuti al luogo, ov’i’t’ho detto Che tu vedrai le genti dolorose.1
Die tiefen Luftſchichten vom Boden bis zu 5 bis 7 m Höhe ſind mit giftigen Inſekten wie mit einem dichten Dunſte angefüllt. Stellt man ſich an einen dunklen Ort, z. B. in die Höhlen, die in den Katarakten durch die aufgetürmten Granitblöcke gebildet werden, und blickt man gegen die von der Sonne beleuchtete Oeffnung, ſo ſieht man Wolken von Moskiten, die mehr oder weniger dicht werden, je nachdem die Tierchen bei ihren langſamen und taktmäßigen Bewegungen ſich zuſammen- oder auseinanderziehen. In der Miſſion San Borja hat man ſchon mehr von den Moskiten zu leiden als in Carichana; aber in den Raudales, in Atures, beſonders aber in Maypures erreicht die Plage ſozuſagen ihr Maxi- mum. Ich zweifle, daß es ein Land auf Erden gibt, wo der Menſch grauſamere Qualen zu erdulden hat als hier in der Regenzeit. Kommt man über den 5. Breitengrad hinauf, wird man etwas weniger zerſtochen; aber am oberen Orinoko ſind die Stiche ſchmerzlicher, weil bei der Hitze und der völli- gen Windſtille die Luft glühender iſt und die Haut, wo ſie dieſelbe berührt, mehr reizt.
1Inferno. C. III, 16.
A. v. Humboldt, Reiſe. III. 10
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0153"n="145"/>
weſtwärts an der Küſte, die gegen Kap Codera läuft, nehmen<lb/>ſie ungeheuer zu. Zwiſchen dem kleinen Hafen von Higuerote<lb/>
und der Mündung des Rio Unare haben die unglücklichen<lb/>
Einwohner den Brauch, ſich bei Nacht auf die Erde zu legen<lb/>
und ſich 8 bis 10 <hirendition="#aq">cm</hi> tief in den Sand zu begraben, ſo daß<lb/>
nur der Kopf frei bleibt, den ſie mit einem Tuche bedecken.<lb/>
Man leidet vom Inſektenſtich, doch ſo, daß es leicht zu er-<lb/>
tragen iſt, wenn man den Orinoko von Cabruta gegen Ango-<lb/>ſtura hinunter und von Cabruta gegen Uruana hinauffährt<lb/>
zwiſchen dem 7. und 8. Grad der Breite. Aber über dem<lb/>
Einfluß des Rio Arauca, wenn man durch den Engpaß beim<lb/>
Baraguan kommt, wird es auf einmal anders, und von nun<lb/>
an findet der Reiſende keine Ruhe mehr. Hat er poetiſche<lb/>
Stellen aus Dante im Kopfe, ſo mag ihm zu Mute ſein,<lb/>
als hätte er die <hirendition="#aq">Città dolente</hi> betreten, als ſtänden an den<lb/>
Felswänden beim Baraguan die merkwürdigen Verſe aus dem<lb/>
3. Buch der Hölle geſchrieben:</p><lb/><cit><quote><hirendition="#et"><hirendition="#aq">Noi sem venuti al luogo, ov’i’t’ho detto<lb/>
Che tu vedrai le genti dolorose.</hi></hi></quote><noteplace="foot"n="1"><hirendition="#aq"><bibl>Inferno. C. III, 16.</bibl></hi></note></cit><lb/><p>Die tiefen Luftſchichten vom Boden bis zu 5 bis 7 <hirendition="#aq">m</hi><lb/>
Höhe ſind mit giftigen Inſekten wie mit einem dichten Dunſte<lb/>
angefüllt. Stellt man ſich an einen dunklen Ort, z. B. in<lb/>
die Höhlen, die in den Katarakten durch die aufgetürmten<lb/>
Granitblöcke gebildet werden, und blickt man gegen die von<lb/>
der Sonne beleuchtete Oeffnung, ſo ſieht man Wolken von<lb/>
Moskiten, die mehr oder weniger dicht werden, je nachdem<lb/>
die Tierchen bei ihren langſamen und taktmäßigen Bewegungen<lb/>ſich zuſammen- oder auseinanderziehen. In der Miſſion San<lb/>
Borja hat man ſchon mehr von den Moskiten zu leiden als<lb/>
in Carichana; aber in den Raudales, in Atures, beſonders<lb/>
aber in Maypures erreicht die Plage ſozuſagen ihr Maxi-<lb/>
mum. Ich zweifle, daß es ein Land auf Erden gibt, wo der<lb/>
Menſch grauſamere Qualen zu erdulden hat als hier in der<lb/>
Regenzeit. Kommt man über den 5. Breitengrad hinauf,<lb/>
wird man etwas weniger zerſtochen; aber am oberen Orinoko<lb/>ſind die Stiche ſchmerzlicher, weil bei der Hitze und der völli-<lb/>
gen Windſtille die Luft glühender iſt und die Haut, wo ſie<lb/>
dieſelbe berührt, mehr reizt.</p><lb/><fwplace="bottom"type="sig">A. v. <hirendition="#g">Humboldt</hi>, Reiſe. <hirendition="#aq">III.</hi> 10</fw><lb/></div></div></body></text></TEI>
[145/0153]
weſtwärts an der Küſte, die gegen Kap Codera läuft, nehmen
ſie ungeheuer zu. Zwiſchen dem kleinen Hafen von Higuerote
und der Mündung des Rio Unare haben die unglücklichen
Einwohner den Brauch, ſich bei Nacht auf die Erde zu legen
und ſich 8 bis 10 cm tief in den Sand zu begraben, ſo daß
nur der Kopf frei bleibt, den ſie mit einem Tuche bedecken.
Man leidet vom Inſektenſtich, doch ſo, daß es leicht zu er-
tragen iſt, wenn man den Orinoko von Cabruta gegen Ango-
ſtura hinunter und von Cabruta gegen Uruana hinauffährt
zwiſchen dem 7. und 8. Grad der Breite. Aber über dem
Einfluß des Rio Arauca, wenn man durch den Engpaß beim
Baraguan kommt, wird es auf einmal anders, und von nun
an findet der Reiſende keine Ruhe mehr. Hat er poetiſche
Stellen aus Dante im Kopfe, ſo mag ihm zu Mute ſein,
als hätte er die Città dolente betreten, als ſtänden an den
Felswänden beim Baraguan die merkwürdigen Verſe aus dem
3. Buch der Hölle geſchrieben:
Noi sem venuti al luogo, ov’i’t’ho detto
Che tu vedrai le genti dolorose. 1
Die tiefen Luftſchichten vom Boden bis zu 5 bis 7 m
Höhe ſind mit giftigen Inſekten wie mit einem dichten Dunſte
angefüllt. Stellt man ſich an einen dunklen Ort, z. B. in
die Höhlen, die in den Katarakten durch die aufgetürmten
Granitblöcke gebildet werden, und blickt man gegen die von
der Sonne beleuchtete Oeffnung, ſo ſieht man Wolken von
Moskiten, die mehr oder weniger dicht werden, je nachdem
die Tierchen bei ihren langſamen und taktmäßigen Bewegungen
ſich zuſammen- oder auseinanderziehen. In der Miſſion San
Borja hat man ſchon mehr von den Moskiten zu leiden als
in Carichana; aber in den Raudales, in Atures, beſonders
aber in Maypures erreicht die Plage ſozuſagen ihr Maxi-
mum. Ich zweifle, daß es ein Land auf Erden gibt, wo der
Menſch grauſamere Qualen zu erdulden hat als hier in der
Regenzeit. Kommt man über den 5. Breitengrad hinauf,
wird man etwas weniger zerſtochen; aber am oberen Orinoko
ſind die Stiche ſchmerzlicher, weil bei der Hitze und der völli-
gen Windſtille die Luft glühender iſt und die Haut, wo ſie
dieſelbe berührt, mehr reizt.
1 Inferno. C. III, 16.
A. v. Humboldt, Reiſe. III. 10
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859/153>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.