aufgegangen und beschien die zerklüfteten, kahlen, seltsam gestal- teten Felsmassen. Zwischen Cumana und Kap Codera bildet das Meer jetzt eine Art Bucht, eine leichte Einbiegung in das Land. Die Eilande Picua, Picuita, Caracas und Boracha erscheinen als Trümmer der alten Küste, die von Bordones in der gleichen Richtung von Ost nach West lief. Hinter diesen Inseln liegen die Busen Mochima und Santa Fe, die sicher eines Tages stark besuchte Häfen werden. Das zer- rissene Land, die zerbrochenen, stark fallenden Schichten, alles deutet hier auf eine große Umwälzung hin, vielleicht dieselbe, welche die Kette der Urgebirge gesprengt und die Glimmer- schiefer von Araya und der Insel Margarita vom Gneis des Vorgebirges Codera losgerissen hat. Mehrere dieser Inseln sieht man in Cumana von den flachen Dächern, und dort zeigen sich an ihnen infolge der verschiedenen Temperatur der übereinander gelagerten Luftschichten die sonderbarsten Ver- rückungen und Luftspiegelungen. Diese Felsen sind schwerlich über 290 m hoch, aber nachts bei Mondlicht scheinen sie von sehr bedeutender Höhe.
Man mag sich wundern, Inseln, die Caracas heißen, so weit von der Stadt dieses Namens, der Küste der Cumana- goten gegenüber zu finden; aber Caracas bedeutete in der ersten Zeit nach der Eroberung keinen Ort, sondern einen Indianer- stamm. Die Gruppen der sehr gebirgigen Eilande, an denen wir nahe hinfuhren, entzogen uns den Wind, und mit Sonnen- aufgang trieben uns schmale Wasserfäden in der Strömung auf Boracha zu, das größte der Eilande. Da die Felsen fast senkrecht aufsteigen, so fällt der Meeresgrund steil ab und auf einer anderen Fahrt habe ich Fregatten hier so nahe ankern sehen, daß sie beinahe ans Land stießen. Die Lufttemperatur war bedeutend gestiegen, seit wir zwischen den Inseln des kleinen Archipels hinfuhren. Das Gestein erhitzt sich am Tage und gibt bei Nacht die absorbierte Wärme durch Strah- lung zum Teil wieder ab. Je mehr die Sonne über den Horizont stieg, desto weiter warfen die zerrissenen Berge ihre gewaltigen Schatten auf die Meeresfläche. Die Flamingo begannen ihren Fischfang allenthalben, wo nur in einer Bucht vor dem Kalkgestein ein schmaler Strand hinlief. Alle diese Eilande sind jetzt ganz unbewohnt; aber auf einer der Caracas leben wilde, braune, sehr große, schnellfüßige Ziegen mit -- wie unser Steuermann versicherte -- sehr wohlschmeckendem Fleische. Vor dreißig Jahren hatte sich eine weiße Familie
aufgegangen und beſchien die zerklüfteten, kahlen, ſeltſam geſtal- teten Felsmaſſen. Zwiſchen Cumana und Kap Codera bildet das Meer jetzt eine Art Bucht, eine leichte Einbiegung in das Land. Die Eilande Picua, Picuita, Caracas und Boracha erſcheinen als Trümmer der alten Küſte, die von Bordones in der gleichen Richtung von Oſt nach Weſt lief. Hinter dieſen Inſeln liegen die Buſen Mochima und Santa Fé, die ſicher eines Tages ſtark beſuchte Häfen werden. Das zer- riſſene Land, die zerbrochenen, ſtark fallenden Schichten, alles deutet hier auf eine große Umwälzung hin, vielleicht dieſelbe, welche die Kette der Urgebirge geſprengt und die Glimmer- ſchiefer von Araya und der Inſel Margarita vom Gneis des Vorgebirges Codera losgeriſſen hat. Mehrere dieſer Inſeln ſieht man in Cumana von den flachen Dächern, und dort zeigen ſich an ihnen infolge der verſchiedenen Temperatur der übereinander gelagerten Luftſchichten die ſonderbarſten Ver- rückungen und Luftſpiegelungen. Dieſe Felſen ſind ſchwerlich über 290 m hoch, aber nachts bei Mondlicht ſcheinen ſie von ſehr bedeutender Höhe.
Man mag ſich wundern, Inſeln, die Caracas heißen, ſo weit von der Stadt dieſes Namens, der Küſte der Cumana- goten gegenüber zu finden; aber Caracas bedeutete in der erſten Zeit nach der Eroberung keinen Ort, ſondern einen Indianer- ſtamm. Die Gruppen der ſehr gebirgigen Eilande, an denen wir nahe hinfuhren, entzogen uns den Wind, und mit Sonnen- aufgang trieben uns ſchmale Waſſerfäden in der Strömung auf Boracha zu, das größte der Eilande. Da die Felſen faſt ſenkrecht aufſteigen, ſo fällt der Meeresgrund ſteil ab und auf einer anderen Fahrt habe ich Fregatten hier ſo nahe ankern ſehen, daß ſie beinahe ans Land ſtießen. Die Lufttemperatur war bedeutend geſtiegen, ſeit wir zwiſchen den Inſeln des kleinen Archipels hinfuhren. Das Geſtein erhitzt ſich am Tage und gibt bei Nacht die abſorbierte Wärme durch Strah- lung zum Teil wieder ab. Je mehr die Sonne über den Horizont ſtieg, deſto weiter warfen die zerriſſenen Berge ihre gewaltigen Schatten auf die Meeresfläche. Die Flamingo begannen ihren Fiſchfang allenthalben, wo nur in einer Bucht vor dem Kalkgeſtein ein ſchmaler Strand hinlief. Alle dieſe Eilande ſind jetzt ganz unbewohnt; aber auf einer der Caracas leben wilde, braune, ſehr große, ſchnellfüßige Ziegen mit — wie unſer Steuermann verſicherte — ſehr wohlſchmeckendem Fleiſche. Vor dreißig Jahren hatte ſich eine weiße Familie
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aufgegangen und beſchien die zerklüfteten, kahlen, ſeltſam geſtal-
teten Felsmaſſen. Zwiſchen Cumana und Kap Codera bildet
das Meer jetzt eine Art Bucht, eine leichte Einbiegung in das
Land. Die Eilande Picua, Picuita, Caracas und Boracha
erſcheinen als Trümmer der alten Küſte, die von Bordones
in der gleichen Richtung von Oſt nach Weſt lief. Hinter
dieſen Inſeln liegen die Buſen Mochima und Santa Fé, die
ſicher eines Tages ſtark beſuchte Häfen werden. Das zer-
riſſene Land, die zerbrochenen, ſtark fallenden Schichten, alles
deutet hier auf eine große Umwälzung hin, vielleicht dieſelbe,
welche die Kette der Urgebirge geſprengt und die Glimmer-
ſchiefer von Araya und der Inſel Margarita vom Gneis des
Vorgebirges Codera losgeriſſen hat. Mehrere dieſer Inſeln
ſieht man in Cumana von den flachen Dächern, und dort
zeigen ſich an ihnen infolge der verſchiedenen Temperatur der
übereinander gelagerten Luftſchichten die ſonderbarſten Ver-
rückungen und Luftſpiegelungen. Dieſe Felſen ſind ſchwerlich
über 290 m hoch, aber nachts bei Mondlicht ſcheinen ſie von
ſehr bedeutender Höhe.
Man mag ſich wundern, Inſeln, die Caracas heißen, ſo
weit von der Stadt dieſes Namens, der Küſte der Cumana-
goten gegenüber zu finden; aber Caracas bedeutete in der erſten
Zeit nach der Eroberung keinen Ort, ſondern einen Indianer-
ſtamm. Die Gruppen der ſehr gebirgigen Eilande, an denen
wir nahe hinfuhren, entzogen uns den Wind, und mit Sonnen-
aufgang trieben uns ſchmale Waſſerfäden in der Strömung
auf Boracha zu, das größte der Eilande. Da die Felſen faſt
ſenkrecht aufſteigen, ſo fällt der Meeresgrund ſteil ab und auf
einer anderen Fahrt habe ich Fregatten hier ſo nahe ankern
ſehen, daß ſie beinahe ans Land ſtießen. Die Lufttemperatur
war bedeutend geſtiegen, ſeit wir zwiſchen den Inſeln des
kleinen Archipels hinfuhren. Das Geſtein erhitzt ſich am
Tage und gibt bei Nacht die abſorbierte Wärme durch Strah-
lung zum Teil wieder ab. Je mehr die Sonne über den
Horizont ſtieg, deſto weiter warfen die zerriſſenen Berge ihre
gewaltigen Schatten auf die Meeresfläche. Die Flamingo
begannen ihren Fiſchfang allenthalben, wo nur in einer Bucht
vor dem Kalkgeſtein ein ſchmaler Strand hinlief. Alle dieſe
Eilande ſind jetzt ganz unbewohnt; aber auf einer der Caracas
leben wilde, braune, ſehr große, ſchnellfüßige Ziegen mit —
wie unſer Steuermann verſicherte — ſehr wohlſchmeckendem
Fleiſche. Vor dreißig Jahren hatte ſich eine weiße Familie
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial02_1859/74>, abgerufen am 16.02.2025.
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