die wir für unerschütterlich gehalten, so ist eine langjährige Täuschung in einem Augenblick zerstört. Es ist, als erwachte man, aber es ist kein angenehmes Erwachen; man fühlt, die vorausgesetzte Ruhe der Natur war nur eine scheinbare, man lauscht hinfort auf das leiseste Geräusch, man mißtraut zum erstenmal einem Boden, auf den man so lange zuversichtlich den Fuß gesetzt. Wiederholen sich die Stöße, treten sie mehrere Tage hintereinander häufig ein, so nimmt dieses Zagen bald ein Ende. Im Jahre 1784 waren die Einwohner von Mexiko so sehr daran gewöhnt, unter ihren Füßen donnern zu hören, wie wir an den Donner in der Luft. Der Mensch faßt sehr schnell wieder Zutrauen, und an den Küsten von Peru ge- wöhnt man sich am Ende an die Schwankungen des Bodens, wie der Schiffer an die Stöße, die das Fahrzeug von den Wellen erhält.
Der rötlichte Dunst, der kurz nach Sonnenuntergang den Horizont umzog, hatte seit dem 7. November aufgehört. Die Luft war wieder so rein wie sonst, und das Himmelsgewölbe zeigte im Zenith das Dunkelblau, das den Klimaten eigen ist, wo die Wärme, das Licht und große Gleichförmigkeit der elektrischen Spannung miteinander die vollständigste Auflösung des Wassers in der Luft zu bewirken scheinen. In der Nacht vom 7. zum 8. beobachtete ich die Immersion des zweiten Jupiterstrabanten. Die Streifen des Planeten waren deut- licher, als ich sie je zuvor gesehen.
Einen Teil der Nacht verwendete ich dazu, die Lichtstärke der schönen Sterne am südlichen Himmel zu vergleichen. Ich hatte schon zur See sorgfältige Beobachtungen derart ange- stellt und setzte sie später bei meinem Aufenthalt in Lima, Guayaquil und Mexiko in beiden Hemisphären fort. Es war über ein halbes Jahrhundert verflossen, seit Lacaille den Strich des Himmels, der in Europa unsichtbar ist, untersucht hatte. Die Sterne nahe am Südpol werden meist so oberflächlich und so wenig anhaltend beobachtet, daß in ihrer Lichtstärke und in ihrer eigenen Bewegung die größten Veränderungen eintreten können, ohne daß die Astronomen das Geringste davon erfahren. Ich glaube Veränderungen derart in den Sternbildern des Kranichs und des Schiffes wahrgenommen zu haben. Nach einem Mittel aus sehr vielen Schätzungen habe ich die relative Lichtstärke der großen Sterne in nach- stehender Reihenfolge abnehmen sehen: Sirius, Canopus, a des Centauren, Achernar, b des Centauren, Fomalhaut,
die wir für unerſchütterlich gehalten, ſo iſt eine langjährige Täuſchung in einem Augenblick zerſtört. Es iſt, als erwachte man, aber es iſt kein angenehmes Erwachen; man fühlt, die vorausgeſetzte Ruhe der Natur war nur eine ſcheinbare, man lauſcht hinfort auf das leiſeſte Geräuſch, man mißtraut zum erſtenmal einem Boden, auf den man ſo lange zuverſichtlich den Fuß geſetzt. Wiederholen ſich die Stöße, treten ſie mehrere Tage hintereinander häufig ein, ſo nimmt dieſes Zagen bald ein Ende. Im Jahre 1784 waren die Einwohner von Mexiko ſo ſehr daran gewöhnt, unter ihren Füßen donnern zu hören, wie wir an den Donner in der Luft. Der Menſch faßt ſehr ſchnell wieder Zutrauen, und an den Küſten von Peru ge- wöhnt man ſich am Ende an die Schwankungen des Bodens, wie der Schiffer an die Stöße, die das Fahrzeug von den Wellen erhält.
Der rötlichte Dunſt, der kurz nach Sonnenuntergang den Horizont umzog, hatte ſeit dem 7. November aufgehört. Die Luft war wieder ſo rein wie ſonſt, und das Himmelsgewölbe zeigte im Zenith das Dunkelblau, das den Klimaten eigen iſt, wo die Wärme, das Licht und große Gleichförmigkeit der elektriſchen Spannung miteinander die vollſtändigſte Auflöſung des Waſſers in der Luft zu bewirken ſcheinen. In der Nacht vom 7. zum 8. beobachtete ich die Immerſion des zweiten Jupiterstrabanten. Die Streifen des Planeten waren deut- licher, als ich ſie je zuvor geſehen.
Einen Teil der Nacht verwendete ich dazu, die Lichtſtärke der ſchönen Sterne am ſüdlichen Himmel zu vergleichen. Ich hatte ſchon zur See ſorgfältige Beobachtungen derart ange- ſtellt und ſetzte ſie ſpäter bei meinem Aufenthalt in Lima, Guayaquil und Mexiko in beiden Hemiſphären fort. Es war über ein halbes Jahrhundert verfloſſen, ſeit Lacaille den Strich des Himmels, der in Europa unſichtbar iſt, unterſucht hatte. Die Sterne nahe am Südpol werden meiſt ſo oberflächlich und ſo wenig anhaltend beobachtet, daß in ihrer Lichtſtärke und in ihrer eigenen Bewegung die größten Veränderungen eintreten können, ohne daß die Aſtronomen das Geringſte davon erfahren. Ich glaube Veränderungen derart in den Sternbildern des Kranichs und des Schiffes wahrgenommen zu haben. Nach einem Mittel aus ſehr vielen Schätzungen habe ich die relative Lichtſtärke der großen Sterne in nach- ſtehender Reihenfolge abnehmen ſehen: Sirius, Canopus, α des Centauren, Achernar, β des Centauren, Fomalhaut,
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die wir für unerſchütterlich gehalten, ſo iſt eine langjährige
Täuſchung in einem Augenblick zerſtört. Es iſt, als erwachte
man, aber es iſt kein angenehmes Erwachen; man fühlt, die
vorausgeſetzte Ruhe der Natur war nur eine ſcheinbare, man
lauſcht hinfort auf das leiſeſte Geräuſch, man mißtraut zum
erſtenmal einem Boden, auf den man ſo lange zuverſichtlich
den Fuß geſetzt. Wiederholen ſich die Stöße, treten ſie mehrere
Tage hintereinander häufig ein, ſo nimmt dieſes Zagen bald
ein Ende. Im Jahre 1784 waren die Einwohner von Mexiko
ſo ſehr daran gewöhnt, unter ihren Füßen donnern zu hören,
wie wir an den Donner in der Luft. Der Menſch faßt ſehr
ſchnell wieder Zutrauen, und an den Küſten von Peru ge-
wöhnt man ſich am Ende an die Schwankungen des Bodens,
wie der Schiffer an die Stöße, die das Fahrzeug von den
Wellen erhält.
Der rötlichte Dunſt, der kurz nach Sonnenuntergang den
Horizont umzog, hatte ſeit dem 7. November aufgehört. Die
Luft war wieder ſo rein wie ſonſt, und das Himmelsgewölbe
zeigte im Zenith das Dunkelblau, das den Klimaten eigen
iſt, wo die Wärme, das Licht und große Gleichförmigkeit der
elektriſchen Spannung miteinander die vollſtändigſte Auflöſung
des Waſſers in der Luft zu bewirken ſcheinen. In der Nacht
vom 7. zum 8. beobachtete ich die Immerſion des zweiten
Jupiterstrabanten. Die Streifen des Planeten waren deut-
licher, als ich ſie je zuvor geſehen.
Einen Teil der Nacht verwendete ich dazu, die Lichtſtärke
der ſchönen Sterne am ſüdlichen Himmel zu vergleichen. Ich
hatte ſchon zur See ſorgfältige Beobachtungen derart ange-
ſtellt und ſetzte ſie ſpäter bei meinem Aufenthalt in Lima,
Guayaquil und Mexiko in beiden Hemiſphären fort. Es war
über ein halbes Jahrhundert verfloſſen, ſeit Lacaille den Strich
des Himmels, der in Europa unſichtbar iſt, unterſucht hatte.
Die Sterne nahe am Südpol werden meiſt ſo oberflächlich
und ſo wenig anhaltend beobachtet, daß in ihrer Lichtſtärke
und in ihrer eigenen Bewegung die größten Veränderungen
eintreten können, ohne daß die Aſtronomen das Geringſte
davon erfahren. Ich glaube Veränderungen derart in den
Sternbildern des Kranichs und des Schiffes wahrgenommen
zu haben. Nach einem Mittel aus ſehr vielen Schätzungen
habe ich die relative Lichtſtärke der großen Sterne in nach-
ſtehender Reihenfolge abnehmen ſehen: Sirius, Canopus,
α des Centauren, Achernar, β des Centauren, Fomalhaut,
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial02_1859/58>, abgerufen am 16.02.2025.
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