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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859.

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Kopfbedeckungen und Kleider ohne Naht. Die Knoten oder
vielmehr die inneren Fächer im Stamme der Bambu geben
Leitern und erleichtern auf tausenderlei Art den Bau einer
Hütte, die Herstellung von Stühlen, Bettstellen und anderem
Geräte, das die wertvolle Habe des Wilden bildet. Bei einer
üppigen Vegetation mit so unendlich mannigfaltigen Pro-
dukten bedarf es dringender Beweggründe, soll der Mensch
sich der Arbeit ergeben, sich aus seinem Halbschlummer auf-
rütteln, seine Geistesfähigkeiten entwickeln.

In Barbula baut man Kakao und Baumwolle. Wir
fanden daselbst, eine Seltenheit in diesem Lande, zwei große
Maschinen mit Cylindern zum Trennen der Baumwolle von
den Samen; die eine wird von einem Wasserrade, die andere
durch einen Göpel und durch Maultiere getrieben. Der Ver-
walter des Hofes, der dieselben gebaut, war aus Merida. Er
kannte den Weg von Nueva Valencia über Guanare und
Misagual nach Varinas, und von dort durch die Schlucht
Callejones zum Paramo der Mucuchies und den mit ewigem
Schnee bedeckten Gebirgen von Merida. Seine Angaben, wie
viel Zeit wir von Valencia über Varinas in die Sierra Ne-
vada, und von da über den Hafen von Torunos und den Rio
Santo Domingo nach San Fernando am Apure brauchen
würden, wurden uns vom größten Nutzen. Man hat in
Europa keinen Begriff davon, wie schwer es hält, genaue Er-
kundigung in einem Lande einzuziehen, wo der Verkehr so
gering ist, und man die Entfernungen gern zu gering an-
gibt oder übertreibt, je nachdem man den Reisenden auf-
muntern oder von seinem Vorhaben abbringen möchte. Bei
der Abreise von Caracas hatte ich dem Intendanten der
Provinz Gelder übergeben, die mir von den königlichen Schatz-
beamten in Varinas ausbezahlt werden sollten. Ich hatte
beschlossen, das westliche Ende der Kordilleren von Neu-
granada, wo sie in die Paramos von Timotes und Niquitao
auslaufen, zu besuchen. Ich hörte nun in Barbula, bei diesem
Abstecher würden wir 35 Tage später an den Orinoko ge-
langen. Diese Verzögerung erschien uns um so bedeutender,
da man vermutete, die Regenzeit werde früher als gewöhn-
lich eintreten. Wir durften hoffen, in der Folge sehr viele
mit ewigem Schnee bedeckte Gebirge in Quito, Peru und
Mexiko besuchen zu können, und es schien mir desto geratener,
den Ausflug in die Gebirge von Merida aufzugeben, da wir
besorgen mußten, dabei unseren eigentlichen Reisezweck zu ver-

Kopfbedeckungen und Kleider ohne Naht. Die Knoten oder
vielmehr die inneren Fächer im Stamme der Bambu geben
Leitern und erleichtern auf tauſenderlei Art den Bau einer
Hütte, die Herſtellung von Stühlen, Bettſtellen und anderem
Geräte, das die wertvolle Habe des Wilden bildet. Bei einer
üppigen Vegetation mit ſo unendlich mannigfaltigen Pro-
dukten bedarf es dringender Beweggründe, ſoll der Menſch
ſich der Arbeit ergeben, ſich aus ſeinem Halbſchlummer auf-
rütteln, ſeine Geiſtesfähigkeiten entwickeln.

In Barbula baut man Kakao und Baumwolle. Wir
fanden daſelbſt, eine Seltenheit in dieſem Lande, zwei große
Maſchinen mit Cylindern zum Trennen der Baumwolle von
den Samen; die eine wird von einem Waſſerrade, die andere
durch einen Göpel und durch Maultiere getrieben. Der Ver-
walter des Hofes, der dieſelben gebaut, war aus Merida. Er
kannte den Weg von Nueva Valencia über Guanare und
Miſagual nach Varinas, und von dort durch die Schlucht
Callejones zum Paramo der Mucuchies und den mit ewigem
Schnee bedeckten Gebirgen von Merida. Seine Angaben, wie
viel Zeit wir von Valencia über Varinas in die Sierra Ne-
vada, und von da über den Hafen von Torunos und den Rio
Santo Domingo nach San Fernando am Apure brauchen
würden, wurden uns vom größten Nutzen. Man hat in
Europa keinen Begriff davon, wie ſchwer es hält, genaue Er-
kundigung in einem Lande einzuziehen, wo der Verkehr ſo
gering iſt, und man die Entfernungen gern zu gering an-
gibt oder übertreibt, je nachdem man den Reiſenden auf-
muntern oder von ſeinem Vorhaben abbringen möchte. Bei
der Abreiſe von Caracas hatte ich dem Intendanten der
Provinz Gelder übergeben, die mir von den königlichen Schatz-
beamten in Varinas ausbezahlt werden ſollten. Ich hatte
beſchloſſen, das weſtliche Ende der Kordilleren von Neu-
granada, wo ſie in die Paramos von Timotes und Niquitao
auslaufen, zu beſuchen. Ich hörte nun in Barbula, bei dieſem
Abſtecher würden wir 35 Tage ſpäter an den Orinoko ge-
langen. Dieſe Verzögerung erſchien uns um ſo bedeutender,
da man vermutete, die Regenzeit werde früher als gewöhn-
lich eintreten. Wir durften hoffen, in der Folge ſehr viele
mit ewigem Schnee bedeckte Gebirge in Quito, Peru und
Mexiko beſuchen zu können, und es ſchien mir deſto geratener,
den Ausflug in die Gebirge von Merida aufzugeben, da wir
beſorgen mußten, dabei unſeren eigentlichen Reiſezweck zu ver-

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[248/0256] Kopfbedeckungen und Kleider ohne Naht. Die Knoten oder vielmehr die inneren Fächer im Stamme der Bambu geben Leitern und erleichtern auf tauſenderlei Art den Bau einer Hütte, die Herſtellung von Stühlen, Bettſtellen und anderem Geräte, das die wertvolle Habe des Wilden bildet. Bei einer üppigen Vegetation mit ſo unendlich mannigfaltigen Pro- dukten bedarf es dringender Beweggründe, ſoll der Menſch ſich der Arbeit ergeben, ſich aus ſeinem Halbſchlummer auf- rütteln, ſeine Geiſtesfähigkeiten entwickeln. In Barbula baut man Kakao und Baumwolle. Wir fanden daſelbſt, eine Seltenheit in dieſem Lande, zwei große Maſchinen mit Cylindern zum Trennen der Baumwolle von den Samen; die eine wird von einem Waſſerrade, die andere durch einen Göpel und durch Maultiere getrieben. Der Ver- walter des Hofes, der dieſelben gebaut, war aus Merida. Er kannte den Weg von Nueva Valencia über Guanare und Miſagual nach Varinas, und von dort durch die Schlucht Callejones zum Paramo der Mucuchies und den mit ewigem Schnee bedeckten Gebirgen von Merida. Seine Angaben, wie viel Zeit wir von Valencia über Varinas in die Sierra Ne- vada, und von da über den Hafen von Torunos und den Rio Santo Domingo nach San Fernando am Apure brauchen würden, wurden uns vom größten Nutzen. Man hat in Europa keinen Begriff davon, wie ſchwer es hält, genaue Er- kundigung in einem Lande einzuziehen, wo der Verkehr ſo gering iſt, und man die Entfernungen gern zu gering an- gibt oder übertreibt, je nachdem man den Reiſenden auf- muntern oder von ſeinem Vorhaben abbringen möchte. Bei der Abreiſe von Caracas hatte ich dem Intendanten der Provinz Gelder übergeben, die mir von den königlichen Schatz- beamten in Varinas ausbezahlt werden ſollten. Ich hatte beſchloſſen, das weſtliche Ende der Kordilleren von Neu- granada, wo ſie in die Paramos von Timotes und Niquitao auslaufen, zu beſuchen. Ich hörte nun in Barbula, bei dieſem Abſtecher würden wir 35 Tage ſpäter an den Orinoko ge- langen. Dieſe Verzögerung erſchien uns um ſo bedeutender, da man vermutete, die Regenzeit werde früher als gewöhn- lich eintreten. Wir durften hoffen, in der Folge ſehr viele mit ewigem Schnee bedeckte Gebirge in Quito, Peru und Mexiko beſuchen zu können, und es ſchien mir deſto geratener, den Ausflug in die Gebirge von Merida aufzugeben, da wir beſorgen mußten, dabei unſeren eigentlichen Reiſezweck zu ver-

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859, S. 248. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial02_1859/256>, abgerufen am 27.04.2024.