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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859.

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ein paar Jahre in den Wäldern der Niederungen oder auf
dem Rücken der Kordilleren gelebt, hat man in Ländern so
groß wie Frankreich nur eine Handvoll zerstreuter Hütten
stehen sehen, so hat eine weite Einöde nichts Schreckendes
mehr für die Einbildungskraft. Man wird vertraut mit der
Vorstellung einer Welt, in der nur Pflanzen und Tiere leben,
wo niemals der Mensch seinen Jubelschrei oder die Klagelaute
seines Schmerzes hören ließ.

Wir konnten die günstige Lage der Silla, die alle Gipfel
umher überragt, nicht lange für unsere Zwecke nutzen. Während
wir mit dem Fernrohr den Seestrich, wo der Horizont scharf
begrenzt war, und die Bergkette von Ocumare betrachteten,
hinter der die unbekannte Welt des Orinoko und des Ama-
zonenstromes beginnt, zog ein dicker Nebel aus der Niederung
zu den Höhen herauf. Zuerst füllte er den Thalgrund von
Caracas. Der von oben beleuchtete Wasserdunst war gleich-
förmig milchweiß gefärbt. Es sah aus, als stünde das Thal
unter Wasser, als bildeten die Berge umher die schroffen Ufer
eines Meeresarmes. Lange warteten wir vergeblich auf den
Sklaven, der den großen Ramsdenschen Sextanten trug; ich
mußte den Zustand des Himmels benutzen und entschloß mich,
einige Sonnenhöhen mit einem Troughtonschen Sextanten von
53 mm Halbmesser aufzunehmen. Die Sonnenscheibe war von
Nebel halb verschleiert. Der Längenunterschied zwischen dem
Quartier Trinidad in Caracas und dem östlichen Gipfel der
Silla scheint kaum größer als 0° 3' 22".

Während ich, auf dem Gestein sitzend, die Inklination
der Magnetnadel beobachtete, sah ich, daß sich eine Menge
haariger Bienen, etwas kleiner als die Honigbiene des nörd-
lichen Europas, auf meine Hände gesetzt hatten. Diese Bienen
nisten im Boden. Sie fliegen selten aus, und nach ihren
trägen Bewegungen konnte man glauben, sie seien auf dem
Berge starr vor Kälte. Man nennt sie hierzulande Angelitos,
Engelchen, weil sie nur sehr selten stechen. Trotz der Be-
hauptung mehrerer Reisenden ist es nicht wahr, daß diese
dem neuen Kontinent eigentümlichen Bienen gar keine An-
griffswaffe haben. Ihr Stachel ist nur schwächer und sie
brauchen denselben seltener. Solange man von der Harm-
losigkeit dieser Angelitos nicht vollkommen überzeugt ist, kann
man sich einiger Besorgnis nicht erwehren. Ich gestehe, daß
ich oft während astronomischer Beobachtungen beinahe die
Instrumente hätte fallen lassen, wenn ich spürte, daß mir

ein paar Jahre in den Wäldern der Niederungen oder auf
dem Rücken der Kordilleren gelebt, hat man in Ländern ſo
groß wie Frankreich nur eine Handvoll zerſtreuter Hütten
ſtehen ſehen, ſo hat eine weite Einöde nichts Schreckendes
mehr für die Einbildungskraft. Man wird vertraut mit der
Vorſtellung einer Welt, in der nur Pflanzen und Tiere leben,
wo niemals der Menſch ſeinen Jubelſchrei oder die Klagelaute
ſeines Schmerzes hören ließ.

Wir konnten die günſtige Lage der Silla, die alle Gipfel
umher überragt, nicht lange für unſere Zwecke nutzen. Während
wir mit dem Fernrohr den Seeſtrich, wo der Horizont ſcharf
begrenzt war, und die Bergkette von Ocumare betrachteten,
hinter der die unbekannte Welt des Orinoko und des Ama-
zonenſtromes beginnt, zog ein dicker Nebel aus der Niederung
zu den Höhen herauf. Zuerſt füllte er den Thalgrund von
Caracas. Der von oben beleuchtete Waſſerdunſt war gleich-
förmig milchweiß gefärbt. Es ſah aus, als ſtünde das Thal
unter Waſſer, als bildeten die Berge umher die ſchroffen Ufer
eines Meeresarmes. Lange warteten wir vergeblich auf den
Sklaven, der den großen Ramsdenſchen Sextanten trug; ich
mußte den Zuſtand des Himmels benutzen und entſchloß mich,
einige Sonnenhöhen mit einem Troughtonſchen Sextanten von
53 mm Halbmeſſer aufzunehmen. Die Sonnenſcheibe war von
Nebel halb verſchleiert. Der Längenunterſchied zwiſchen dem
Quartier Trinidad in Caracas und dem öſtlichen Gipfel der
Silla ſcheint kaum größer als 0° 3′ 22″.

Während ich, auf dem Geſtein ſitzend, die Inklination
der Magnetnadel beobachtete, ſah ich, daß ſich eine Menge
haariger Bienen, etwas kleiner als die Honigbiene des nörd-
lichen Europas, auf meine Hände geſetzt hatten. Dieſe Bienen
niſten im Boden. Sie fliegen ſelten aus, und nach ihren
trägen Bewegungen konnte man glauben, ſie ſeien auf dem
Berge ſtarr vor Kälte. Man nennt ſie hierzulande Angelitos,
Engelchen, weil ſie nur ſehr ſelten ſtechen. Trotz der Be-
hauptung mehrerer Reiſenden iſt es nicht wahr, daß dieſe
dem neuen Kontinent eigentümlichen Bienen gar keine An-
griffswaffe haben. Ihr Stachel iſt nur ſchwächer und ſie
brauchen denſelben ſeltener. Solange man von der Harm-
loſigkeit dieſer Angelitos nicht vollkommen überzeugt iſt, kann
man ſich einiger Beſorgnis nicht erwehren. Ich geſtehe, daß
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[142/0150] ein paar Jahre in den Wäldern der Niederungen oder auf dem Rücken der Kordilleren gelebt, hat man in Ländern ſo groß wie Frankreich nur eine Handvoll zerſtreuter Hütten ſtehen ſehen, ſo hat eine weite Einöde nichts Schreckendes mehr für die Einbildungskraft. Man wird vertraut mit der Vorſtellung einer Welt, in der nur Pflanzen und Tiere leben, wo niemals der Menſch ſeinen Jubelſchrei oder die Klagelaute ſeines Schmerzes hören ließ. Wir konnten die günſtige Lage der Silla, die alle Gipfel umher überragt, nicht lange für unſere Zwecke nutzen. Während wir mit dem Fernrohr den Seeſtrich, wo der Horizont ſcharf begrenzt war, und die Bergkette von Ocumare betrachteten, hinter der die unbekannte Welt des Orinoko und des Ama- zonenſtromes beginnt, zog ein dicker Nebel aus der Niederung zu den Höhen herauf. Zuerſt füllte er den Thalgrund von Caracas. Der von oben beleuchtete Waſſerdunſt war gleich- förmig milchweiß gefärbt. Es ſah aus, als ſtünde das Thal unter Waſſer, als bildeten die Berge umher die ſchroffen Ufer eines Meeresarmes. Lange warteten wir vergeblich auf den Sklaven, der den großen Ramsdenſchen Sextanten trug; ich mußte den Zuſtand des Himmels benutzen und entſchloß mich, einige Sonnenhöhen mit einem Troughtonſchen Sextanten von 53 mm Halbmeſſer aufzunehmen. Die Sonnenſcheibe war von Nebel halb verſchleiert. Der Längenunterſchied zwiſchen dem Quartier Trinidad in Caracas und dem öſtlichen Gipfel der Silla ſcheint kaum größer als 0° 3′ 22″. Während ich, auf dem Geſtein ſitzend, die Inklination der Magnetnadel beobachtete, ſah ich, daß ſich eine Menge haariger Bienen, etwas kleiner als die Honigbiene des nörd- lichen Europas, auf meine Hände geſetzt hatten. Dieſe Bienen niſten im Boden. Sie fliegen ſelten aus, und nach ihren trägen Bewegungen konnte man glauben, ſie ſeien auf dem Berge ſtarr vor Kälte. Man nennt ſie hierzulande Angelitos, Engelchen, weil ſie nur ſehr ſelten ſtechen. Trotz der Be- hauptung mehrerer Reiſenden iſt es nicht wahr, daß dieſe dem neuen Kontinent eigentümlichen Bienen gar keine An- griffswaffe haben. Ihr Stachel iſt nur ſchwächer und ſie brauchen denſelben ſeltener. Solange man von der Harm- loſigkeit dieſer Angelitos nicht vollkommen überzeugt iſt, kann man ſich einiger Beſorgnis nicht erwehren. Ich geſtehe, daß ich oft während aſtronomiſcher Beobachtungen beinahe die Inſtrumente hätte fallen laſſen, wenn ich ſpürte, daß mir

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial02_1859/150>, abgerufen am 22.11.2024.