gingen Ueberlieferungen und geschichtliches Bewußtsein des Volkes vom Mutterlande auf die Kolonieen über, erbten dort von Geschlecht zu Geschlecht fort und äußerten fortwährend den besten Einfluß auf Geist, Sitten und Politik der An- siedler. Das Klima in jenen ersten Niederlassungen über dem Meere war vom Klima des Mutterlandes nicht sehr verschieden. Die Griechen in Kleinasien und auf Sizilien entfremdeten sich nicht den Einwohnern von Argos, Athen und Korinth, von denen abzustammen ihr Stolz war. Große Ueberein- stimmung in Sitte und Brauch that das Ihrige dazu, eine Verbindung zu befestigen, die sich auf religiöse und politische Interessen gründete. Häufig opferten die Kolonieen die Erst- linge ihrer Ernten in den Tempeln der Mutterstädte, und wenn durch einen unheilvollen Zufall das heilige Feuer auf den Altären von Hestia erloschen war, so schickte man von hinten in Jonien nach Griechenland und ließ es aus den Prytaneen wieder holen. Ueberall, in Cyrenaica wie an den Ufern des Sees Mäotis, erhielten sich die alten Ueberliefe- rungen des Mutterlandes. Andere Erinnerungen, die gleich mächtig zur Einbildungskraft sprechen, hafteten an den Ko- lonieen selbst. Sie hatten ihre heiligen Haine, ihre Schutz- gottheiten, ihren lokalen Mythenkreis; sie hatten, was den Dichtungen der frühesten Zeitalter Leben und Dauer verleiht, ihre Dichter, deren Ruhm selbst über das Mutterland Glanz verbreitete.
Dieser und noch mancher andern Vorteile entbehren die heutigen Ansiedelungen. Die meisten wurden in einem Land- strich gegründet, wo Klima, Naturprodukte, der Anblick des Himmels und der Landschaft ganz anders sind als in Europa. Wenn auch der Ansiedler Bergen, Flüssen, Thälern Namen beilegt, die an vaterländische Landschaften erinnern, diese Namen verlieren bald ihren Reiz und sagen den nachkommenden Ge- schlechtern nichts mehr. In fremdartiger Naturumgebung er- wachsen aus neuen Bedürfnissen andere Sitten; die geschicht- lichen Erinnerungen verblassen allmählich, und die sich erhalten, knüpfen sich fortan gleich Phantasiegebilden weder an einen bestimmten Ort, noch an eine bestimmte Zeit. Der Ruhm Don Pelagios und des Cid Campeador ist bis in die Ge- birge und Wälder Amerikas gedrungen; dem Volke kommen je zuweilen diese glorreichen Namen auf die Zunge, aber sie schweben seiner Seele vor wie Wesen aus einer idealen Welt, aus dem Dämmer der Fabelzeit.
gingen Ueberlieferungen und geſchichtliches Bewußtſein des Volkes vom Mutterlande auf die Kolonieen über, erbten dort von Geſchlecht zu Geſchlecht fort und äußerten fortwährend den beſten Einfluß auf Geiſt, Sitten und Politik der An- ſiedler. Das Klima in jenen erſten Niederlaſſungen über dem Meere war vom Klima des Mutterlandes nicht ſehr verſchieden. Die Griechen in Kleinaſien und auf Sizilien entfremdeten ſich nicht den Einwohnern von Argos, Athen und Korinth, von denen abzuſtammen ihr Stolz war. Große Ueberein- ſtimmung in Sitte und Brauch that das Ihrige dazu, eine Verbindung zu befeſtigen, die ſich auf religiöſe und politiſche Intereſſen gründete. Häufig opferten die Kolonieen die Erſt- linge ihrer Ernten in den Tempeln der Mutterſtädte, und wenn durch einen unheilvollen Zufall das heilige Feuer auf den Altären von Heſtia erloſchen war, ſo ſchickte man von hinten in Jonien nach Griechenland und ließ es aus den Prytaneen wieder holen. Ueberall, in Cyrenaica wie an den Ufern des Sees Mäotis, erhielten ſich die alten Ueberliefe- rungen des Mutterlandes. Andere Erinnerungen, die gleich mächtig zur Einbildungskraft ſprechen, hafteten an den Ko- lonieen ſelbſt. Sie hatten ihre heiligen Haine, ihre Schutz- gottheiten, ihren lokalen Mythenkreis; ſie hatten, was den Dichtungen der früheſten Zeitalter Leben und Dauer verleiht, ihre Dichter, deren Ruhm ſelbſt über das Mutterland Glanz verbreitete.
Dieſer und noch mancher andern Vorteile entbehren die heutigen Anſiedelungen. Die meiſten wurden in einem Land- ſtrich gegründet, wo Klima, Naturprodukte, der Anblick des Himmels und der Landſchaft ganz anders ſind als in Europa. Wenn auch der Anſiedler Bergen, Flüſſen, Thälern Namen beilegt, die an vaterländiſche Landſchaften erinnern, dieſe Namen verlieren bald ihren Reiz und ſagen den nachkommenden Ge- ſchlechtern nichts mehr. In fremdartiger Naturumgebung er- wachſen aus neuen Bedürfniſſen andere Sitten; die geſchicht- lichen Erinnerungen verblaſſen allmählich, und die ſich erhalten, knüpfen ſich fortan gleich Phantaſiegebilden weder an einen beſtimmten Ort, noch an eine beſtimmte Zeit. Der Ruhm Don Pelagios und des Cid Campeador iſt bis in die Ge- birge und Wälder Amerikas gedrungen; dem Volke kommen je zuweilen dieſe glorreichen Namen auf die Zunge, aber ſie ſchweben ſeiner Seele vor wie Weſen aus einer idealen Welt, aus dem Dämmer der Fabelzeit.
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gingen Ueberlieferungen und geſchichtliches Bewußtſein des
Volkes vom Mutterlande auf die Kolonieen über, erbten dort
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den beſten Einfluß auf Geiſt, Sitten und Politik der An-
ſiedler. Das Klima in jenen erſten Niederlaſſungen über dem
Meere war vom Klima des Mutterlandes nicht ſehr verſchieden.
Die Griechen in Kleinaſien und auf Sizilien entfremdeten
ſich nicht den Einwohnern von Argos, Athen und Korinth,
von denen abzuſtammen ihr Stolz war. Große Ueberein-
ſtimmung in Sitte und Brauch that das Ihrige dazu, eine
Verbindung zu befeſtigen, die ſich auf religiöſe und politiſche
Intereſſen gründete. Häufig opferten die Kolonieen die Erſt-
linge ihrer Ernten in den Tempeln der Mutterſtädte, und
wenn durch einen unheilvollen Zufall das heilige Feuer auf
den Altären von Heſtia erloſchen war, ſo ſchickte man von
hinten in Jonien nach Griechenland und ließ es aus den
Prytaneen wieder holen. Ueberall, in Cyrenaica wie an den
Ufern des Sees Mäotis, erhielten ſich die alten Ueberliefe-
rungen des Mutterlandes. Andere Erinnerungen, die gleich
mächtig zur Einbildungskraft ſprechen, hafteten an den Ko-
lonieen ſelbſt. Sie hatten ihre heiligen Haine, ihre Schutz-
gottheiten, ihren lokalen Mythenkreis; ſie hatten, was den
Dichtungen der früheſten Zeitalter Leben und Dauer verleiht,
ihre Dichter, deren Ruhm ſelbſt über das Mutterland Glanz
verbreitete.
Dieſer und noch mancher andern Vorteile entbehren die
heutigen Anſiedelungen. Die meiſten wurden in einem Land-
ſtrich gegründet, wo Klima, Naturprodukte, der Anblick des
Himmels und der Landſchaft ganz anders ſind als in Europa.
Wenn auch der Anſiedler Bergen, Flüſſen, Thälern Namen
beilegt, die an vaterländiſche Landſchaften erinnern, dieſe Namen
verlieren bald ihren Reiz und ſagen den nachkommenden Ge-
ſchlechtern nichts mehr. In fremdartiger Naturumgebung er-
wachſen aus neuen Bedürfniſſen andere Sitten; die geſchicht-
lichen Erinnerungen verblaſſen allmählich, und die ſich erhalten,
knüpfen ſich fortan gleich Phantaſiegebilden weder an einen
beſtimmten Ort, noch an eine beſtimmte Zeit. Der Ruhm
Don Pelagios und des Cid Campeador iſt bis in die Ge-
birge und Wälder Amerikas gedrungen; dem Volke kommen je
zuweilen dieſe glorreichen Namen auf die Zunge, aber ſie
ſchweben ſeiner Seele vor wie Weſen aus einer idealen Welt,
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial01_1859/224>, abgerufen am 24.04.2024.
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