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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859.

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Nachdem wir uns in der Umgegend von Maniquarez
umgesehen, bestiegen wir ein Fischerboot, um nach Cumana
zurückzukehren. Nichts zeigt so deutlich, wie ruhig die See
in diesen Strichen ist, als die Kleinheit und der schlechte Zu-
stand dieser Kähne, die ein sehr hohes Segel führen. Der
Kahn, den wir ausgesucht hatten, weil er noch am wenigsten
beschädigt war, zeigte sich so leck, daß der Sohn des Steuer-
mannes fortwährend mit einer Tutuma, der Frucht der Cres-
centia cujete,
das Wasser ausschöpfen mußte. Es kommt
im Meerbusen von Cariaco, besonders nordwärts von der
Halbinsel Araya, nicht selten vor, daß die mit Kokosnüssen
beladenen Piroguen umschlagen, wenn sie zu nahe am Winde
gerade gegen den Wellenschlag steuern. Vor solchen Unfällen
fürchten sich aber nur Reisende, die nicht gut schwimmen
können; denn wird die Pirogue von einem indianischen Fischer
mit seinem Sohne geführt, so dreht der Vater den Kahn wieder
um und macht sich daran, das Wasser hinauszuschaffen, während
der Sohn schwimmend die Kokosnüsse zusammenholt. In
weniger als einer Viertelstunde ist die Pirogue wieder unter
Segel, ohne daß der Indianer in seinem unerschöpflichen
Gleichmut eine Klage hätte hören lassen.

Die Einwohner von Araya, die wir auf der Rückkehr vom
Orinoko noch einmal besuchten, haben nicht vergessen, daß ihre
Halbinsel einer der Punkte ist, wo sich am frühesten Kastilianer
niedergelassen. Sie sprechen gern von der Perlenfischerei, von
den Ruinen des Schlosses Santiago, das, wie sie hoffen, einst
wieder aufgebaut wird, überhaupt von dem, was sie den ehe-
maligen Glanz des Landes nennen. In China und Japan
gilt alles, was man erst seit 2000 Jahren kennt, für neue
Erfindung; in den europäischen Niederlassungen erscheint ein
Ereignis, das 300 Jahre, bis zur Entdeckung von Amerika
hinaufreicht, als ungemein alt. Dieser Mangel an alter Ueber-
lieferung, der den jungen Völkern in den Vereinigten Staaten
wie in den spanischen und portugiesischen Besitzungen eigen
ist, verdient alle Beachtung. Er hat nicht nur etwas Pein-
liches für den Reisenden, der sich dadurch um den höchsten
Genuß der Einbildungskraft gebracht sieht, er äußert auch
seinen Einfluß auf die mehr oder minder starken Bande, die
den Kolonisten an den Boden fesseln, auf dem er wohnt, an
die Gestalt der Felsen, die seine Hütte umgeben, an die Bäume,
in deren Schatten seine Wiege gestanden.

Bei den Alten, z. B. bei Phöniziern und Griechen,

Nachdem wir uns in der Umgegend von Maniquarez
umgeſehen, beſtiegen wir ein Fiſcherboot, um nach Cumana
zurückzukehren. Nichts zeigt ſo deutlich, wie ruhig die See
in dieſen Strichen iſt, als die Kleinheit und der ſchlechte Zu-
ſtand dieſer Kähne, die ein ſehr hohes Segel führen. Der
Kahn, den wir ausgeſucht hatten, weil er noch am wenigſten
beſchädigt war, zeigte ſich ſo leck, daß der Sohn des Steuer-
mannes fortwährend mit einer Tutuma, der Frucht der Cres-
centia cujete,
das Waſſer ausſchöpfen mußte. Es kommt
im Meerbuſen von Cariaco, beſonders nordwärts von der
Halbinſel Araya, nicht ſelten vor, daß die mit Kokosnüſſen
beladenen Piroguen umſchlagen, wenn ſie zu nahe am Winde
gerade gegen den Wellenſchlag ſteuern. Vor ſolchen Unfällen
fürchten ſich aber nur Reiſende, die nicht gut ſchwimmen
können; denn wird die Pirogue von einem indianiſchen Fiſcher
mit ſeinem Sohne geführt, ſo dreht der Vater den Kahn wieder
um und macht ſich daran, das Waſſer hinauszuſchaffen, während
der Sohn ſchwimmend die Kokosnüſſe zuſammenholt. In
weniger als einer Viertelſtunde iſt die Pirogue wieder unter
Segel, ohne daß der Indianer in ſeinem unerſchöpflichen
Gleichmut eine Klage hätte hören laſſen.

Die Einwohner von Araya, die wir auf der Rückkehr vom
Orinoko noch einmal beſuchten, haben nicht vergeſſen, daß ihre
Halbinſel einer der Punkte iſt, wo ſich am früheſten Kaſtilianer
niedergelaſſen. Sie ſprechen gern von der Perlenfiſcherei, von
den Ruinen des Schloſſes Santiago, das, wie ſie hoffen, einſt
wieder aufgebaut wird, überhaupt von dem, was ſie den ehe-
maligen Glanz des Landes nennen. In China und Japan
gilt alles, was man erſt ſeit 2000 Jahren kennt, für neue
Erfindung; in den europäiſchen Niederlaſſungen erſcheint ein
Ereignis, das 300 Jahre, bis zur Entdeckung von Amerika
hinaufreicht, als ungemein alt. Dieſer Mangel an alter Ueber-
lieferung, der den jungen Völkern in den Vereinigten Staaten
wie in den ſpaniſchen und portugieſiſchen Beſitzungen eigen
iſt, verdient alle Beachtung. Er hat nicht nur etwas Pein-
liches für den Reiſenden, der ſich dadurch um den höchſten
Genuß der Einbildungskraft gebracht ſieht, er äußert auch
ſeinen Einfluß auf die mehr oder minder ſtarken Bande, die
den Koloniſten an den Boden feſſeln, auf dem er wohnt, an
die Geſtalt der Felſen, die ſeine Hütte umgeben, an die Bäume,
in deren Schatten ſeine Wiege geſtanden.

Bei den Alten, z. B. bei Phöniziern und Griechen,

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[207/0223] Nachdem wir uns in der Umgegend von Maniquarez umgeſehen, beſtiegen wir ein Fiſcherboot, um nach Cumana zurückzukehren. Nichts zeigt ſo deutlich, wie ruhig die See in dieſen Strichen iſt, als die Kleinheit und der ſchlechte Zu- ſtand dieſer Kähne, die ein ſehr hohes Segel führen. Der Kahn, den wir ausgeſucht hatten, weil er noch am wenigſten beſchädigt war, zeigte ſich ſo leck, daß der Sohn des Steuer- mannes fortwährend mit einer Tutuma, der Frucht der Cres- centia cujete, das Waſſer ausſchöpfen mußte. Es kommt im Meerbuſen von Cariaco, beſonders nordwärts von der Halbinſel Araya, nicht ſelten vor, daß die mit Kokosnüſſen beladenen Piroguen umſchlagen, wenn ſie zu nahe am Winde gerade gegen den Wellenſchlag ſteuern. Vor ſolchen Unfällen fürchten ſich aber nur Reiſende, die nicht gut ſchwimmen können; denn wird die Pirogue von einem indianiſchen Fiſcher mit ſeinem Sohne geführt, ſo dreht der Vater den Kahn wieder um und macht ſich daran, das Waſſer hinauszuſchaffen, während der Sohn ſchwimmend die Kokosnüſſe zuſammenholt. In weniger als einer Viertelſtunde iſt die Pirogue wieder unter Segel, ohne daß der Indianer in ſeinem unerſchöpflichen Gleichmut eine Klage hätte hören laſſen. Die Einwohner von Araya, die wir auf der Rückkehr vom Orinoko noch einmal beſuchten, haben nicht vergeſſen, daß ihre Halbinſel einer der Punkte iſt, wo ſich am früheſten Kaſtilianer niedergelaſſen. Sie ſprechen gern von der Perlenfiſcherei, von den Ruinen des Schloſſes Santiago, das, wie ſie hoffen, einſt wieder aufgebaut wird, überhaupt von dem, was ſie den ehe- maligen Glanz des Landes nennen. In China und Japan gilt alles, was man erſt ſeit 2000 Jahren kennt, für neue Erfindung; in den europäiſchen Niederlaſſungen erſcheint ein Ereignis, das 300 Jahre, bis zur Entdeckung von Amerika hinaufreicht, als ungemein alt. Dieſer Mangel an alter Ueber- lieferung, der den jungen Völkern in den Vereinigten Staaten wie in den ſpaniſchen und portugieſiſchen Beſitzungen eigen iſt, verdient alle Beachtung. Er hat nicht nur etwas Pein- liches für den Reiſenden, der ſich dadurch um den höchſten Genuß der Einbildungskraft gebracht ſieht, er äußert auch ſeinen Einfluß auf die mehr oder minder ſtarken Bande, die den Koloniſten an den Boden feſſeln, auf dem er wohnt, an die Geſtalt der Felſen, die ſeine Hütte umgeben, an die Bäume, in deren Schatten ſeine Wiege geſtanden. Bei den Alten, z. B. bei Phöniziern und Griechen,

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859, S. 207. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial01_1859/223>, abgerufen am 25.04.2024.