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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859.

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sprechen nur von der Menge Kaninchen auf der Insel. Der
Venado auf Cubagua gehört zu einer der vielen kleinen
amerikanischen Hirscharten, die von den Zoologen lange unter
dem allgemeinen Namen Cervus Americanus zusammenge-
geworfen wurden. Er scheint mir nicht identisch mit der
Biche des Savanes von Guadeloupe oder dem Guazuti
in Paraguay, der auch in Rudeln lebt. Sein Fell ist auf
dem Rücken rotbraun, am Bauche weiß; es ist gefleckt, wie
beim Axis. In den Ebenen am Cari zeigte man uns, als
eine große Seltenheit in diesen heißen Ländern, eine weiße
Spielart. Es war eine Hirschkuh von der Größe des euro-
päischen Rehes und von äußerst zierlicher Gestalt. Albinos
kommen in der Neuen Welt sogar unter den Tigern vor.
Azara sah einen Jaguar, auf dessen ganz weißem Fell man
nur hier und da gleichsam einen Schatten von den runden
Flecken sah.

Für den merkwürdigsten, man kann sagen für den wun-
derbarsten aller Naturkörper auf der Küste von Araya gilt
beim Volke der Augenstein, Piedra de los ojos. Dieses
Gebilde aus Kalkerde ist in aller Munde; nach der Volks-
physik ist es ein Stein und ein Tier zugleich. Man findet
es im Sande, und da rührt es sich nicht; nimmt man es aber
einzeln auf und legt es auf eine ebene Fläche, z. B. auf einen
Zinn- oder Fayence-Teller, so bewegt es sich, sobald man es
durch Zitronensaft reizt. Steckt man es ins Auge, so dreht sich
das angebliche Tier um sich selbst und schiebt jeden fremden
Körper heraus, der zufällig ins Auge geraten ist. Auf der
neuen Saline und im Dorfe Maniquarez brachte man uns
solche Augensteine zu Hunderten und die Eingeborenen machten
uns den Versuch mit dem Zitronensaft eifrig vor. Man wollte
uns Sand in die Augen bringen, damit wir uns selbst von
der Wirksamkeit des Mittels überzeugten. Wir sahen als-
bald, daß diese Steine die dünnen, porösen Deckel kleiner ein-
schaliger Muscheln sind. Sie haben 2 bis 8 mm Durchmesser;
die eine Fläche ist eben, die andere gewölbt. Diese Kalkdeckel
brausen mit Zitronensaft auf und rücken von der Stelle, indem
sich die Kohlensäure entwickelt. Infolge ähnlicher Reaktion
bewegt sich zuweilen das Brot im Backofen auf wagerechter
Fläche, was in Europa zum Volksglauben an bezauberte Oefen
Anlaß gegeben hat. Die Piedras de los ojos wirken, wenn
man sie ins Auge schiebt, wie die kleinen Perlen und ver-
schiedene runde Samen, deren sich die Wilden in Amerika

ſprechen nur von der Menge Kaninchen auf der Inſel. Der
Venado auf Cubagua gehört zu einer der vielen kleinen
amerikaniſchen Hirſcharten, die von den Zoologen lange unter
dem allgemeinen Namen Cervus Americanus zuſammenge-
geworfen wurden. Er ſcheint mir nicht identiſch mit der
Biche des Savanes von Guadeloupe oder dem Guazuti
in Paraguay, der auch in Rudeln lebt. Sein Fell iſt auf
dem Rücken rotbraun, am Bauche weiß; es iſt gefleckt, wie
beim Axis. In den Ebenen am Cari zeigte man uns, als
eine große Seltenheit in dieſen heißen Ländern, eine weiße
Spielart. Es war eine Hirſchkuh von der Größe des euro-
päiſchen Rehes und von äußerſt zierlicher Geſtalt. Albinos
kommen in der Neuen Welt ſogar unter den Tigern vor.
Azara ſah einen Jaguar, auf deſſen ganz weißem Fell man
nur hier und da gleichſam einen Schatten von den runden
Flecken ſah.

Für den merkwürdigſten, man kann ſagen für den wun-
derbarſten aller Naturkörper auf der Küſte von Araya gilt
beim Volke der Augenſtein, Piedra de los ojos. Dieſes
Gebilde aus Kalkerde iſt in aller Munde; nach der Volks-
phyſik iſt es ein Stein und ein Tier zugleich. Man findet
es im Sande, und da rührt es ſich nicht; nimmt man es aber
einzeln auf und legt es auf eine ebene Fläche, z. B. auf einen
Zinn- oder Fayence-Teller, ſo bewegt es ſich, ſobald man es
durch Zitronenſaft reizt. Steckt man es ins Auge, ſo dreht ſich
das angebliche Tier um ſich ſelbſt und ſchiebt jeden fremden
Körper heraus, der zufällig ins Auge geraten iſt. Auf der
neuen Saline und im Dorfe Maniquarez brachte man uns
ſolche Augenſteine zu Hunderten und die Eingeborenen machten
uns den Verſuch mit dem Zitronenſaft eifrig vor. Man wollte
uns Sand in die Augen bringen, damit wir uns ſelbſt von
der Wirkſamkeit des Mittels überzeugten. Wir ſahen als-
bald, daß dieſe Steine die dünnen, poröſen Deckel kleiner ein-
ſchaliger Muſcheln ſind. Sie haben 2 bis 8 mm Durchmeſſer;
die eine Fläche iſt eben, die andere gewölbt. Dieſe Kalkdeckel
brauſen mit Zitronenſaft auf und rücken von der Stelle, indem
ſich die Kohlenſäure entwickelt. Infolge ähnlicher Reaktion
bewegt ſich zuweilen das Brot im Backofen auf wagerechter
Fläche, was in Europa zum Volksglauben an bezauberte Oefen
Anlaß gegeben hat. Die Piedras de los ojos wirken, wenn
man ſie ins Auge ſchiebt, wie die kleinen Perlen und ver-
ſchiedene runde Samen, deren ſich die Wilden in Amerika

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[205/0221] ſprechen nur von der Menge Kaninchen auf der Inſel. Der Venado auf Cubagua gehört zu einer der vielen kleinen amerikaniſchen Hirſcharten, die von den Zoologen lange unter dem allgemeinen Namen Cervus Americanus zuſammenge- geworfen wurden. Er ſcheint mir nicht identiſch mit der Biche des Savanes von Guadeloupe oder dem Guazuti in Paraguay, der auch in Rudeln lebt. Sein Fell iſt auf dem Rücken rotbraun, am Bauche weiß; es iſt gefleckt, wie beim Axis. In den Ebenen am Cari zeigte man uns, als eine große Seltenheit in dieſen heißen Ländern, eine weiße Spielart. Es war eine Hirſchkuh von der Größe des euro- päiſchen Rehes und von äußerſt zierlicher Geſtalt. Albinos kommen in der Neuen Welt ſogar unter den Tigern vor. Azara ſah einen Jaguar, auf deſſen ganz weißem Fell man nur hier und da gleichſam einen Schatten von den runden Flecken ſah. Für den merkwürdigſten, man kann ſagen für den wun- derbarſten aller Naturkörper auf der Küſte von Araya gilt beim Volke der Augenſtein, Piedra de los ojos. Dieſes Gebilde aus Kalkerde iſt in aller Munde; nach der Volks- phyſik iſt es ein Stein und ein Tier zugleich. Man findet es im Sande, und da rührt es ſich nicht; nimmt man es aber einzeln auf und legt es auf eine ebene Fläche, z. B. auf einen Zinn- oder Fayence-Teller, ſo bewegt es ſich, ſobald man es durch Zitronenſaft reizt. Steckt man es ins Auge, ſo dreht ſich das angebliche Tier um ſich ſelbſt und ſchiebt jeden fremden Körper heraus, der zufällig ins Auge geraten iſt. Auf der neuen Saline und im Dorfe Maniquarez brachte man uns ſolche Augenſteine zu Hunderten und die Eingeborenen machten uns den Verſuch mit dem Zitronenſaft eifrig vor. Man wollte uns Sand in die Augen bringen, damit wir uns ſelbſt von der Wirkſamkeit des Mittels überzeugten. Wir ſahen als- bald, daß dieſe Steine die dünnen, poröſen Deckel kleiner ein- ſchaliger Muſcheln ſind. Sie haben 2 bis 8 mm Durchmeſſer; die eine Fläche iſt eben, die andere gewölbt. Dieſe Kalkdeckel brauſen mit Zitronenſaft auf und rücken von der Stelle, indem ſich die Kohlenſäure entwickelt. Infolge ähnlicher Reaktion bewegt ſich zuweilen das Brot im Backofen auf wagerechter Fläche, was in Europa zum Volksglauben an bezauberte Oefen Anlaß gegeben hat. Die Piedras de los ojos wirken, wenn man ſie ins Auge ſchiebt, wie die kleinen Perlen und ver- ſchiedene runde Samen, deren ſich die Wilden in Amerika

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial01_1859/221>, abgerufen am 20.04.2024.