Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859.

Bild:
<< vorherige Seite

Wenn man anfängt geographische Karten zu betrachten
und Schilderungen der Seefahrer zu lesen, so fühlt man für
gewisse Länder und gewisse Klimate eine Art Vorliebe, von
der man sich in reiferem Alter keine Rechenschaft zu geben
vermag. Eindrücke derart äußern einen nicht unbedeutenden
Einfluß auf unsere Entschlüsse, und wie instinktmäßig suchen
wir Gegenständen, die schon so lange eine geheime Anziehungs-
kraft für uns gehabt, wirklich nahe zu kommen. Als ich mich
mit dem Himmel beschäftigte, nicht um Astronomie zu treiben,
sondern nur um die Sterne kennen zu lernen, empfand ich
eine bange Unruhe, die Menschen, die ein sitzendes Leben
lieben, ganz fremd ist. Der Hoffnung entsagen zu sollen,
jemals jene herrlichen Sternbilder am Südpol zu erblicken,
das schien mir sehr hart. Im ungeduldigen Drange, die
Aequatorialländer kennen zu lernen, konnte ich nicht die Augen
zum Sterngewölbe aufschlagen, ohne an das südliche Kreuz
zu denken und mir die erhabenen Verse Dantes vorzusagen,
welche sich nach den berühmtesten Auslegern auf jenes Stern-
bild beziehen:

Jo mi volsi a man destra e posi mente
All' altro polo, e vidi quattro stelle,
Non viste mai fuor ch' alla prima gente.
Goder parea lo ciel di lor fiammelle,
O settentrional vedovo sito,
Poi che privato se di mirar quelle!
1

Unsere Freude beim Erscheinen des südlichen Kreuzes
wurde lebhaft von denjenigen unter der Mannschaft geteilt,
die in den Kolonieen gelebt hatten. In der Meereseinsamkeit
begrüßt man einen Stern wie einen Freund, von dem man
lange Zeit getrennt gewesen. Bei den Portugiesen und
Spaniern steigert sich diese gemütliche Teilnahme noch durch

1
Rechts an des andern Poles Firmament
Boten sich dar vier Sterne meinen Blicken,
Die nur dem ersten Paar zu schaun vergönnt.
Ihr Schimmer schien den Himmel zu entzücken:
O mitternächt'ger Bogen, so verwaist,

(Nach Kannegießers Uebersetzung)

Wenn man anfängt geographiſche Karten zu betrachten
und Schilderungen der Seefahrer zu leſen, ſo fühlt man für
gewiſſe Länder und gewiſſe Klimate eine Art Vorliebe, von
der man ſich in reiferem Alter keine Rechenſchaft zu geben
vermag. Eindrücke derart äußern einen nicht unbedeutenden
Einfluß auf unſere Entſchlüſſe, und wie inſtinktmäßig ſuchen
wir Gegenſtänden, die ſchon ſo lange eine geheime Anziehungs-
kraft für uns gehabt, wirklich nahe zu kommen. Als ich mich
mit dem Himmel beſchäftigte, nicht um Aſtronomie zu treiben,
ſondern nur um die Sterne kennen zu lernen, empfand ich
eine bange Unruhe, die Menſchen, die ein ſitzendes Leben
lieben, ganz fremd iſt. Der Hoffnung entſagen zu ſollen,
jemals jene herrlichen Sternbilder am Südpol zu erblicken,
das ſchien mir ſehr hart. Im ungeduldigen Drange, die
Aequatorialländer kennen zu lernen, konnte ich nicht die Augen
zum Sterngewölbe aufſchlagen, ohne an das ſüdliche Kreuz
zu denken und mir die erhabenen Verſe Dantes vorzuſagen,
welche ſich nach den berühmteſten Auslegern auf jenes Stern-
bild beziehen:

Jo mi volsi a man destra e posi mente
All’ altro polo, e vidi quattro stelle,
Non viste mai fuor ch’ alla prima gente.
Goder parea lo ciel di lor fiammelle,
O settentrional vedovo sito,
Poi che privato se di mirar quelle!
1

Unſere Freude beim Erſcheinen des ſüdlichen Kreuzes
wurde lebhaft von denjenigen unter der Mannſchaft geteilt,
die in den Kolonieen gelebt hatten. In der Meereseinſamkeit
begrüßt man einen Stern wie einen Freund, von dem man
lange Zeit getrennt geweſen. Bei den Portugieſen und
Spaniern ſteigert ſich dieſe gemütliche Teilnahme noch durch

1
Rechts an des andern Poles Firmament
Boten ſich dar vier Sterne meinen Blicken,
Die nur dem erſten Paar zu ſchaun vergönnt.
Ihr Schimmer ſchien den Himmel zu entzücken:
O mitternächt’ger Bogen, ſo verwaiſt,

(Nach Kannegießers Ueberſetzung)
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0153" n="137"/>
          <p>Wenn man anfängt geographi&#x017F;che Karten zu betrachten<lb/>
und Schilderungen der Seefahrer zu le&#x017F;en, &#x017F;o fühlt man für<lb/>
gewi&#x017F;&#x017F;e Länder und gewi&#x017F;&#x017F;e Klimate eine Art Vorliebe, von<lb/>
der man &#x017F;ich in reiferem Alter keine Rechen&#x017F;chaft zu geben<lb/>
vermag. Eindrücke derart äußern einen nicht unbedeutenden<lb/>
Einfluß auf un&#x017F;ere Ent&#x017F;chlü&#x017F;&#x017F;e, und wie in&#x017F;tinktmäßig &#x017F;uchen<lb/>
wir Gegen&#x017F;tänden, die &#x017F;chon &#x017F;o lange eine geheime Anziehungs-<lb/>
kraft für uns gehabt, wirklich nahe zu kommen. Als ich mich<lb/>
mit dem Himmel be&#x017F;chäftigte, nicht um A&#x017F;tronomie zu treiben,<lb/>
&#x017F;ondern nur um die Sterne kennen zu lernen, empfand ich<lb/>
eine bange Unruhe, die Men&#x017F;chen, die ein &#x017F;itzendes Leben<lb/>
lieben, ganz fremd i&#x017F;t. Der Hoffnung ent&#x017F;agen zu &#x017F;ollen,<lb/>
jemals jene herrlichen Sternbilder am Südpol zu erblicken,<lb/>
das &#x017F;chien mir &#x017F;ehr hart. Im ungeduldigen Drange, die<lb/>
Aequatorialländer kennen zu lernen, konnte ich nicht die Augen<lb/>
zum Sterngewölbe auf&#x017F;chlagen, ohne an das &#x017F;üdliche Kreuz<lb/>
zu denken und mir die erhabenen Ver&#x017F;e Dantes vorzu&#x017F;agen,<lb/>
welche &#x017F;ich nach den berühmte&#x017F;ten Auslegern auf jenes Stern-<lb/>
bild beziehen:</p><lb/>
          <lg type="poem">
            <lg n="1">
              <l> <hi rendition="#aq">Jo mi volsi a man destra e posi mente</hi> </l><lb/>
              <l> <hi rendition="#aq">All&#x2019; altro polo, e vidi quattro stelle,</hi> </l><lb/>
              <l> <hi rendition="#aq">Non viste mai fuor ch&#x2019; alla prima gente.</hi> </l>
            </lg><lb/>
            <lg n="2">
              <l> <hi rendition="#aq">Goder parea lo ciel di lor fiammelle,</hi> </l><lb/>
              <l> <hi rendition="#aq">O settentrional vedovo sito,</hi> </l><lb/>
              <l> <hi rendition="#aq">Poi che privato se di mirar quelle!</hi> </l>
            </lg>
          </lg>
          <note place="foot" n="1">
            <lg type="poem">
              <lg n="1">
                <l>Rechts an des andern Poles Firmament</l><lb/>
                <l>Boten &#x017F;ich dar vier Sterne meinen Blicken,</l><lb/>
                <l>Die nur dem er&#x017F;ten Paar zu &#x017F;chaun vergönnt.</l>
              </lg><lb/>
              <lg n="2">
                <l>Ihr Schimmer &#x017F;chien den Himmel zu entzücken:</l><lb/>
                <l>O mitternächt&#x2019;ger Bogen, &#x017F;o verwai&#x017F;t,</l><lb/>
                <l> </l>
              </lg>
            </lg><lb/> <hi rendition="#et">(Nach Kannegießers Ueber&#x017F;etzung)</hi> </note><lb/>
          <p>Un&#x017F;ere Freude beim Er&#x017F;cheinen des &#x017F;üdlichen Kreuzes<lb/>
wurde lebhaft von denjenigen unter der Mann&#x017F;chaft geteilt,<lb/>
die in den Kolonieen gelebt hatten. In der Meeresein&#x017F;amkeit<lb/>
begrüßt man einen Stern wie einen Freund, von dem man<lb/>
lange Zeit getrennt gewe&#x017F;en. Bei den Portugie&#x017F;en und<lb/>
Spaniern &#x017F;teigert &#x017F;ich die&#x017F;e gemütliche Teilnahme noch durch<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[137/0153] Wenn man anfängt geographiſche Karten zu betrachten und Schilderungen der Seefahrer zu leſen, ſo fühlt man für gewiſſe Länder und gewiſſe Klimate eine Art Vorliebe, von der man ſich in reiferem Alter keine Rechenſchaft zu geben vermag. Eindrücke derart äußern einen nicht unbedeutenden Einfluß auf unſere Entſchlüſſe, und wie inſtinktmäßig ſuchen wir Gegenſtänden, die ſchon ſo lange eine geheime Anziehungs- kraft für uns gehabt, wirklich nahe zu kommen. Als ich mich mit dem Himmel beſchäftigte, nicht um Aſtronomie zu treiben, ſondern nur um die Sterne kennen zu lernen, empfand ich eine bange Unruhe, die Menſchen, die ein ſitzendes Leben lieben, ganz fremd iſt. Der Hoffnung entſagen zu ſollen, jemals jene herrlichen Sternbilder am Südpol zu erblicken, das ſchien mir ſehr hart. Im ungeduldigen Drange, die Aequatorialländer kennen zu lernen, konnte ich nicht die Augen zum Sterngewölbe aufſchlagen, ohne an das ſüdliche Kreuz zu denken und mir die erhabenen Verſe Dantes vorzuſagen, welche ſich nach den berühmteſten Auslegern auf jenes Stern- bild beziehen: Jo mi volsi a man destra e posi mente All’ altro polo, e vidi quattro stelle, Non viste mai fuor ch’ alla prima gente. Goder parea lo ciel di lor fiammelle, O settentrional vedovo sito, Poi che privato se di mirar quelle! 1 Unſere Freude beim Erſcheinen des ſüdlichen Kreuzes wurde lebhaft von denjenigen unter der Mannſchaft geteilt, die in den Kolonieen gelebt hatten. In der Meereseinſamkeit begrüßt man einen Stern wie einen Freund, von dem man lange Zeit getrennt geweſen. Bei den Portugieſen und Spaniern ſteigert ſich dieſe gemütliche Teilnahme noch durch 1 Rechts an des andern Poles Firmament Boten ſich dar vier Sterne meinen Blicken, Die nur dem erſten Paar zu ſchaun vergönnt. Ihr Schimmer ſchien den Himmel zu entzücken: O mitternächt’ger Bogen, ſo verwaiſt, (Nach Kannegießers Ueberſetzung)

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial01_1859
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial01_1859/153
Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial01_1859/153>, abgerufen am 27.04.2024.