in der Lüge leben. Man findet sie vor- züglich unter den raffinirten und über- cultivirten Menschenarten. Ich kenne keinen unnatürlichern Zustand.
Schlimm genug ists schon, ein Kleid tragen zu müssen, was nicht für uns ge- macht ist, was an allen Orten presst und drückt, und uns jede Bewegung er- schwehrt, aber was ist diess gegen das Tragen eines fremden Karacters, gegen einen solchen moralischen Zwang, wo Worte, Betragen, Aeusserungen und Handlungen in beständigem Wider- spruch mit unserm innern Gefühle und Willen stehen, wo wir unsre stärksten natürlichsten Triebe unterdrücken und fremde heucheln, und wo wir jeden Nerven, jede Faser beständig in Span- nung erhalten müssen, um die Lüge, denn das ist hier unsre ganze Existenz, vollständig zu machen. -- Ein solcher unwahrer Zustand ist nichts anders, als ein beständiger krampfigter Zustand, und die Folge zeigt es. Eine anhaltende innre Unruhe, Aengstlichkeit, unor-
dent-
in der Lüge leben. Man findet ſie vor- züglich unter den raffinirten und über- cultivirten Menſchenarten. Ich kenne keinen unnatürlichern Zuſtand.
Schlimm genug iſts ſchon, ein Kleid tragen zu müſſen, was nicht für uns ge- macht iſt, was an allen Orten preſst und drückt, und uns jede Bewegung er- ſchwehrt, aber was iſt dieſs gegen das Tragen eines fremden Karacters, gegen einen ſolchen moraliſchen Zwang, wo Worte, Betragen, Aeuſſerungen und Handlungen in beſtändigem Wider- ſpruch mit unſerm innern Gefühle und Willen ſtehen, wo wir unſre ſtärkſten natürlichſten Triebe unterdrücken und fremde heucheln, und wo wir jeden Nerven, jede Faſer beſtändig in Span- nung erhalten müſſen, um die Lüge, denn das iſt hier unſre ganze Exiſtenz, vollſtändig zu machen. — Ein ſolcher unwahrer Zuſtand iſt nichts anders, als ein beſtändiger krampfigter Zuſtand, und die Folge zeigt es. Eine anhaltende innre Unruhe, Aengſtlichkeit, unor-
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in der Lüge leben. Man findet ſie vor-
züglich unter den raffinirten und über-
cultivirten Menſchenarten. Ich kenne
keinen unnatürlichern Zuſtand.
Schlimm genug iſts ſchon, ein Kleid
tragen zu müſſen, was nicht für uns ge-
macht iſt, was an allen Orten preſst und
drückt, und uns jede Bewegung er-
ſchwehrt, aber was iſt dieſs gegen das
Tragen eines fremden Karacters, gegen
einen ſolchen moraliſchen Zwang, wo
Worte, Betragen, Aeuſſerungen und
Handlungen in beſtändigem Wider-
ſpruch mit unſerm innern Gefühle und
Willen ſtehen, wo wir unſre ſtärkſten
natürlichſten Triebe unterdrücken und
fremde heucheln, und wo wir jeden
Nerven, jede Faſer beſtändig in Span-
nung erhalten müſſen, um die Lüge,
denn das iſt hier unſre ganze Exiſtenz,
vollſtändig zu machen. — Ein ſolcher
unwahrer Zuſtand iſt nichts anders, als
ein beſtändiger krampfigter Zuſtand,
und die Folge zeigt es. Eine anhaltende
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Hufeland, Christoph Wilhelm: Die Kunst das menschliche Leben zu verlängern. Jena, 1797, S. 624. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hufeland_leben_1797/652>, abgerufen am 22.11.2024.
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