Mutterleib ist nicht mehr eine solche Freystätte, eine ungestöhrte Werkstatt der Natur. Durch die unnatürliche Empfindlichkeit, die jezt einen grossen Theil des weiblichen Geschlechts eigen ist, sind auch diese Theile weit em- pfänglicher für tausend nachtheilige Einwirkungen, für eine Menge Mitlei- denschaften worden, und die Frucht leidet bey allen Leidenschaften, bey jedem Schrecken, bey Krankheitsursa- chen und selbst bey den unbedeutend- sten Veranlassungen mit. Daher ist es unmöglich, dass ein Kind in einer sol- chen Werkstätte, wo seine Bildung und Entwicklung jeden Augenblick gestöhrt und unterbrochen wird, je den Grad von Vollkommenheit und Festigkeit er- halten sollte, zu dem es bestimmt war. Und eben so wenig denkt man jezt in bürgerlicher und politischer Rücksicht an die Wichtigkeit dieses Zustandes. Wer denkt jezt an die Heiligkeit einer Schwangern, wer nimmt Rücksicht bey
Mutterleib iſt nicht mehr eine ſolche Freyſtätte, eine ungeſtöhrte Werkſtatt der Natur. Durch die unnatürliche Empfindlichkeit, die jezt einen groſsen Theil des weiblichen Geſchlechts eigen iſt, ſind auch dieſe Theile weit em- pfänglicher für tauſend nachtheilige Einwirkungen, für eine Menge Mitlei- denſchaften worden, und die Frucht leidet bey allen Leidenſchaften, bey jedem Schrecken, bey Krankheitsurſa- chen und ſelbſt bey den unbedeutend- ſten Veranlaſſungen mit. Daher iſt es unmöglich, daſs ein Kind in einer ſol- chen Werkſtätte, wo ſeine Bildung und Entwicklung jeden Augenblick geſtöhrt und unterbrochen wird, je den Grad von Vollkommenheit und Feſtigkeit er- halten ſollte, zu dem es beſtimmt war. Und eben ſo wenig denkt man jezt in bürgerlicher und politiſcher Rückſicht an die Wichtigkeit dieſes Zuſtandes. Wer denkt jezt an die Heiligkeit einer Schwangern, wer nimmt Rückſicht bey
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0499"n="471"/>
Mutterleib iſt nicht mehr eine ſolche<lb/>
Freyſtätte, eine ungeſtöhrte Werkſtatt<lb/>
der Natur. Durch die unnatürliche<lb/>
Empfindlichkeit, die jezt einen groſsen<lb/>
Theil des weiblichen Geſchlechts eigen<lb/>
iſt, ſind auch dieſe Theile weit em-<lb/>
pfänglicher für tauſend nachtheilige<lb/>
Einwirkungen, für eine Menge Mitlei-<lb/>
denſchaften worden, und die Frucht<lb/>
leidet bey allen Leidenſchaften, bey<lb/>
jedem Schrecken, bey Krankheitsurſa-<lb/>
chen und ſelbſt bey den unbedeutend-<lb/>ſten Veranlaſſungen mit. Daher iſt es<lb/>
unmöglich, daſs ein Kind in einer ſol-<lb/>
chen Werkſtätte, wo ſeine Bildung und<lb/>
Entwicklung jeden Augenblick geſtöhrt<lb/>
und unterbrochen wird, je den Grad<lb/>
von Vollkommenheit und Feſtigkeit er-<lb/>
halten ſollte, zu dem es beſtimmt war.<lb/>
Und eben ſo wenig denkt man jezt in<lb/>
bürgerlicher und politiſcher Rückſicht<lb/>
an die Wichtigkeit dieſes Zuſtandes.<lb/>
Wer denkt jezt an die Heiligkeit einer<lb/>
Schwangern, wer nimmt Rückſicht bey<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[471/0499]
Mutterleib iſt nicht mehr eine ſolche
Freyſtätte, eine ungeſtöhrte Werkſtatt
der Natur. Durch die unnatürliche
Empfindlichkeit, die jezt einen groſsen
Theil des weiblichen Geſchlechts eigen
iſt, ſind auch dieſe Theile weit em-
pfänglicher für tauſend nachtheilige
Einwirkungen, für eine Menge Mitlei-
denſchaften worden, und die Frucht
leidet bey allen Leidenſchaften, bey
jedem Schrecken, bey Krankheitsurſa-
chen und ſelbſt bey den unbedeutend-
ſten Veranlaſſungen mit. Daher iſt es
unmöglich, daſs ein Kind in einer ſol-
chen Werkſtätte, wo ſeine Bildung und
Entwicklung jeden Augenblick geſtöhrt
und unterbrochen wird, je den Grad
von Vollkommenheit und Feſtigkeit er-
halten ſollte, zu dem es beſtimmt war.
Und eben ſo wenig denkt man jezt in
bürgerlicher und politiſcher Rückſicht
an die Wichtigkeit dieſes Zuſtandes.
Wer denkt jezt an die Heiligkeit einer
Schwangern, wer nimmt Rückſicht bey
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Hufeland, Christoph Wilhelm: Die Kunst das menschliche Leben zu verlängern. Jena, 1797, S. 471. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hufeland_leben_1797/499>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.