sind nicht dieselben Menschen, jedes Jahr führt der Vater seinen Sohn dahin, jedes Jahr hört es der Jüngling in einem andern Verhältniß gegen den Staat und die Mitbürger. -- Nein, es ist nicht Gewohnheit, es ist Unempfänglichkeit. Der Funke schläft, den dieses Andenken entzünden könnte -- wessen Weisheit wagt aber den Moment zu be- stimmen, wo diese Predigt ihn erwecken kann? und welche Wichtigkeit hat alsdann diese Predigt! Wir kannten in unsern Tagen einen Gesang, der Tausende mit dem schönsten Enthusiasmus ent- zündete, und sollte ich die Flucht der erhabenen Täuschung, die eine kurze Zeit die Seelen hinriß, mit wenigen Worten schildern, so würde ich sa- gen: die Marseiller Hymne ward vergessen. Die- ser Gesang! -- ja seinen Tönen war es mancher Mann aus dem letzten Jahrzehend des verflosse- nen Jahrhunderts schuldig, daß er mit den höch- sten Gefühlen, deren der Mensch fähig ist, das Leben verließ.
Nachdem nun die Mordpredigt, wie dieser Gottesdienst hier genannt wird, beendigt war, ging ich auf das Stadthaus, um ein historisches Gemählde zu sehen, welches die Einnahme der Stadt von den Spaniern darstellte. Ich fand eine
S
ſind nicht dieſelben Menſchen, jedes Jahr fuͤhrt der Vater ſeinen Sohn dahin, jedes Jahr hoͤrt es der Juͤngling in einem andern Verhaͤltniß gegen den Staat und die Mitbuͤrger. — Nein, es iſt nicht Gewohnheit, es iſt Unempfaͤnglichkeit. Der Funke ſchlaͤft, den dieſes Andenken entzuͤnden koͤnnte — weſſen Weisheit wagt aber den Moment zu be- ſtimmen, wo dieſe Predigt ihn erwecken kann? und welche Wichtigkeit hat alsdann dieſe Predigt! Wir kannten in unſern Tagen einen Geſang, der Tauſende mit dem ſchoͤnſten Enthuſiasmus ent- zuͤndete, und ſollte ich die Flucht der erhabenen Taͤuſchung, die eine kurze Zeit die Seelen hinriß, mit wenigen Worten ſchildern, ſo wuͤrde ich ſa- gen: die Marſeiller Hymne ward vergeſſen. Die- ſer Geſang! — ja ſeinen Toͤnen war es mancher Mann aus dem letzten Jahrzehend des verfloſſe- nen Jahrhunderts ſchuldig, daß er mit den hoͤch- ſten Gefuͤhlen, deren der Menſch faͤhig iſt, das Leben verließ.
Nachdem nun die Mordpredigt, wie dieſer Gottesdienſt hier genannt wird, beendigt war, ging ich auf das Stadthaus, um ein hiſtoriſches Gemaͤhlde zu ſehen, welches die Einnahme der Stadt von den Spaniern darſtellte. Ich fand eine
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ſind nicht dieſelben Menſchen, jedes Jahr fuͤhrt
der Vater ſeinen Sohn dahin, jedes Jahr hoͤrt es
der Juͤngling in einem andern Verhaͤltniß gegen
den Staat und die Mitbuͤrger. — Nein, es iſt nicht
Gewohnheit, es iſt Unempfaͤnglichkeit. Der Funke
ſchlaͤft, den dieſes Andenken entzuͤnden koͤnnte —
weſſen Weisheit wagt aber den Moment zu be-
ſtimmen, wo dieſe Predigt ihn erwecken kann?
und welche Wichtigkeit hat alsdann dieſe Predigt!
Wir kannten in unſern Tagen einen Geſang, der
Tauſende mit dem ſchoͤnſten Enthuſiasmus ent-
zuͤndete, und ſollte ich die Flucht der erhabenen
Taͤuſchung, die eine kurze Zeit die Seelen hinriß,
mit wenigen Worten ſchildern, ſo wuͤrde ich ſa-
gen: die Marſeiller Hymne ward vergeſſen. Die-
ſer Geſang! — ja ſeinen Toͤnen war es mancher
Mann aus dem letzten Jahrzehend des verfloſſe-
nen Jahrhunderts ſchuldig, daß er mit den hoͤch-
ſten Gefuͤhlen, deren der Menſch faͤhig iſt, das
Leben verließ.
Nachdem nun die Mordpredigt, wie dieſer
Gottesdienſt hier genannt wird, beendigt war,
ging ich auf das Stadthaus, um ein hiſtoriſches
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Huber, Therese: Bemerkungen über Holland aus dem Reisejournal einer deutschen Frau. Leipzig, 1811, S. 273. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/huber_reisejournal_1811/287>, abgerufen am 24.11.2024.
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