Schon im ersten Nachtquartier hatte Anton mit seinem Geigenspiel des musikliebenden Geronimo gan- zes Herz bezwungen. Der rohe Thierführer -- der übrigens für einen aufmerksam-beobachtenden Men- schenkenner vielleicht Zweifel dargeboten haben dürfte, ob diese zur Schau getragene Rohheit nicht mehr Kunst enthalte, als Natur? -- schmolz in Wehmuth hin bei sanften und melancholischen Melodieen. War er doch auch einmal jung gewesen! Hatte doch auch seine Kindheit eine Heimath gehabt! Es erging ihm, wie es allen Menschen ergeht, jedem in eigener Art: mag die Rinde, die Wetter und Wind und Staub und Regen um unsere Brust gelegt, noch so derb und dick sein, -- bei Sonnenuntergang, in dämmernder Abendstunde träumen wir wieder von harmloser Kin- derzeit; und während solcher Träume schleicht sich durch irgend welch' verborgenes Winkelchen die süße Macht des Liedes unvermerkt bei uns ein. Wer diese Stimmung in uns hervorzubringen weiß, den gewin- nen wir lieb.
Jn Lucca, wenn Anton's Tagebuch nicht irrt,
Sechsundfünfzigſtes Kapitel.
Paganini.
Schon im erſten Nachtquartier hatte Anton mit ſeinem Geigenſpiel des muſikliebenden Geronimo gan- zes Herz bezwungen. Der rohe Thierfuͤhrer — der uͤbrigens fuͤr einen aufmerkſam-beobachtenden Men- ſchenkenner vielleicht Zweifel dargeboten haben duͤrfte, ob dieſe zur Schau getragene Rohheit nicht mehr Kunſt enthalte, als Natur? — ſchmolz in Wehmuth hin bei ſanften und melancholiſchen Melodieen. War er doch auch einmal jung geweſen! Hatte doch auch ſeine Kindheit eine Heimath gehabt! Es erging ihm, wie es allen Menſchen ergeht, jedem in eigener Art: mag die Rinde, die Wetter und Wind und Staub und Regen um unſere Bruſt gelegt, noch ſo derb und dick ſein, — bei Sonnenuntergang, in daͤmmernder Abendſtunde traͤumen wir wieder von harmloſer Kin- derzeit; und waͤhrend ſolcher Traͤume ſchleicht ſich durch irgend welch’ verborgenes Winkelchen die ſuͤße Macht des Liedes unvermerkt bei uns ein. Wer dieſe Stimmung in uns hervorzubringen weiß, den gewin- nen wir lieb.
Jn Lucca, wenn Anton’s Tagebuch nicht irrt,
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Sechsundfünfzigſtes Kapitel.
Paganini.
Schon im erſten Nachtquartier hatte Anton mit
ſeinem Geigenſpiel des muſikliebenden Geronimo gan-
zes Herz bezwungen. Der rohe Thierfuͤhrer — der
uͤbrigens fuͤr einen aufmerkſam-beobachtenden Men-
ſchenkenner vielleicht Zweifel dargeboten haben duͤrfte,
ob dieſe zur Schau getragene Rohheit nicht mehr
Kunſt enthalte, als Natur? — ſchmolz in Wehmuth
hin bei ſanften und melancholiſchen Melodieen. War
er doch auch einmal jung geweſen! Hatte doch auch
ſeine Kindheit eine Heimath gehabt! Es erging ihm,
wie es allen Menſchen ergeht, jedem in eigener Art:
mag die Rinde, die Wetter und Wind und Staub
und Regen um unſere Bruſt gelegt, noch ſo derb und
dick ſein, — bei Sonnenuntergang, in daͤmmernder
Abendſtunde traͤumen wir wieder von harmloſer Kin-
derzeit; und waͤhrend ſolcher Traͤume ſchleicht ſich
durch irgend welch’ verborgenes Winkelchen die ſuͤße
Macht des Liedes unvermerkt bei uns ein. Wer dieſe
Stimmung in uns hervorzubringen weiß, den gewin-
nen wir lieb.
Jn Lucca, wenn Anton’s Tagebuch nicht irrt,
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Holtei, Karl von: Die Vagabunden. Bd. 3. Breslau, 1852, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/holtei_vagabunden03_1852/74>, abgerufen am 26.07.2024.
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