Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Holtei, Karl von: Die Vagabunden. Bd. 3. Breslau, 1852.

Bild:
<< vorherige Seite

schmalen Gasse glänzten im Wiederschein unzähliger
Lichter auf grünen Bäumen und Pyramiden. Anton
kam in seiner Erzählung auf die Stelle, wo die gute
Frau Hahn den Angstschrei ihrer Tochter herab dröh-
nen hören, wo sie den ehrlichen Kantor bei seinem
Weihnachts-Aufbau im unteren Zimmer allein gelassen,
wo sie sich in Todesangst zu ihrer Tochter hinauf
begeben, -- und wo sie ihn gefunden, den kleinen,
kleinen Anton: das Kind der Liebe, des Grames, der
Verzweiflung!

Heute vor vierundzwanzig Jahren! sagte die kranke
Frau.

Ein eisiger Frost ging bei diesen Worten durch
Antons Glieder.

"Es ist kalt im Zimmer, soll ich Holz nachlegen?"
fragte er.

Nein, Anton, erwiederte sie. Jch friere, weil mein
Leben langsam erlischt, der warme Ofen kann mir
nicht helfen. Lassen Sie mich frieren und sterben.
Aber gehen Sie, suchen Sie Jhr Kämmerlein. Jch
habe Jhnen Abendbrot und Wein hinüber gestellt und
eine kleine Gabe von uns zum Christfest. Sie haben
mir den ganzen Tag geschenkt; verderben Sie sich
nicht auch den heutigen Abend mit mir. Schreiben

ſchmalen Gaſſe glaͤnzten im Wiederſchein unzaͤhliger
Lichter auf gruͤnen Baͤumen und Pyramiden. Anton
kam in ſeiner Erzaͤhlung auf die Stelle, wo die gute
Frau Hahn den Angſtſchrei ihrer Tochter herab droͤh-
nen hoͤren, wo ſie den ehrlichen Kantor bei ſeinem
Weihnachts-Aufbau im unteren Zimmer allein gelaſſen,
wo ſie ſich in Todesangſt zu ihrer Tochter hinauf
begeben, — und wo ſie ihn gefunden, den kleinen,
kleinen Anton: das Kind der Liebe, des Grames, der
Verzweiflung!

Heute vor vierundzwanzig Jahren! ſagte die kranke
Frau.

Ein eiſiger Froſt ging bei dieſen Worten durch
Antons Glieder.

„Es iſt kalt im Zimmer, ſoll ich Holz nachlegen?“
fragte er.

Nein, Anton, erwiederte ſie. Jch friere, weil mein
Leben langſam erliſcht, der warme Ofen kann mir
nicht helfen. Laſſen Sie mich frieren und ſterben.
Aber gehen Sie, ſuchen Sie Jhr Kaͤmmerlein. Jch
habe Jhnen Abendbrot und Wein hinuͤber geſtellt und
eine kleine Gabe von uns zum Chriſtfeſt. Sie haben
mir den ganzen Tag geſchenkt; verderben Sie ſich
nicht auch den heutigen Abend mit mir. Schreiben

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0194" n="190"/>
&#x017F;chmalen Ga&#x017F;&#x017F;e gla&#x0364;nzten im Wieder&#x017F;chein unza&#x0364;hliger<lb/>
Lichter auf gru&#x0364;nen Ba&#x0364;umen und Pyramiden. Anton<lb/>
kam in &#x017F;einer Erza&#x0364;hlung auf die Stelle, wo die gute<lb/>
Frau Hahn den Ang&#x017F;t&#x017F;chrei ihrer Tochter herab dro&#x0364;h-<lb/>
nen ho&#x0364;ren, wo &#x017F;ie den ehrlichen Kantor bei &#x017F;einem<lb/>
Weihnachts-Aufbau im unteren Zimmer allein gela&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
wo &#x017F;ie &#x017F;ich in Todesang&#x017F;t zu ihrer Tochter hinauf<lb/>
begeben, &#x2014; und wo &#x017F;ie ihn gefunden, den kleinen,<lb/>
kleinen Anton: das Kind der Liebe, des Grames, der<lb/>
Verzweiflung!</p><lb/>
        <p>Heute vor vierundzwanzig Jahren! &#x017F;agte die kranke<lb/>
Frau.</p><lb/>
        <p>Ein ei&#x017F;iger Fro&#x017F;t ging bei die&#x017F;en Worten durch<lb/>
Antons Glieder.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Es i&#x017F;t kalt im Zimmer, &#x017F;oll ich Holz nachlegen?&#x201C;<lb/>
fragte er.</p><lb/>
        <p>Nein, Anton, erwiederte &#x017F;ie. Jch friere, weil mein<lb/>
Leben lang&#x017F;am erli&#x017F;cht, der warme Ofen kann mir<lb/>
nicht helfen. La&#x017F;&#x017F;en Sie mich frieren und &#x017F;terben.<lb/>
Aber gehen Sie, &#x017F;uchen Sie Jhr Ka&#x0364;mmerlein. Jch<lb/>
habe Jhnen Abendbrot und Wein hinu&#x0364;ber ge&#x017F;tellt und<lb/>
eine kleine Gabe von uns zum Chri&#x017F;tfe&#x017F;t. Sie haben<lb/>
mir den ganzen Tag ge&#x017F;chenkt; verderben Sie &#x017F;ich<lb/>
nicht auch den <hi rendition="#g">heutigen</hi> Abend mit mir. Schreiben<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[190/0194] ſchmalen Gaſſe glaͤnzten im Wiederſchein unzaͤhliger Lichter auf gruͤnen Baͤumen und Pyramiden. Anton kam in ſeiner Erzaͤhlung auf die Stelle, wo die gute Frau Hahn den Angſtſchrei ihrer Tochter herab droͤh- nen hoͤren, wo ſie den ehrlichen Kantor bei ſeinem Weihnachts-Aufbau im unteren Zimmer allein gelaſſen, wo ſie ſich in Todesangſt zu ihrer Tochter hinauf begeben, — und wo ſie ihn gefunden, den kleinen, kleinen Anton: das Kind der Liebe, des Grames, der Verzweiflung! Heute vor vierundzwanzig Jahren! ſagte die kranke Frau. Ein eiſiger Froſt ging bei dieſen Worten durch Antons Glieder. „Es iſt kalt im Zimmer, ſoll ich Holz nachlegen?“ fragte er. Nein, Anton, erwiederte ſie. Jch friere, weil mein Leben langſam erliſcht, der warme Ofen kann mir nicht helfen. Laſſen Sie mich frieren und ſterben. Aber gehen Sie, ſuchen Sie Jhr Kaͤmmerlein. Jch habe Jhnen Abendbrot und Wein hinuͤber geſtellt und eine kleine Gabe von uns zum Chriſtfeſt. Sie haben mir den ganzen Tag geſchenkt; verderben Sie ſich nicht auch den heutigen Abend mit mir. Schreiben

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/holtei_vagabunden03_1852
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/holtei_vagabunden03_1852/194
Zitationshilfe: Holtei, Karl von: Die Vagabunden. Bd. 3. Breslau, 1852, S. 190. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/holtei_vagabunden03_1852/194>, abgerufen am 17.05.2024.