Du phantasierst, Großmutter! rief Anton angst- erfüllt. Und kaum hatte er's gerufen, so drang der erste Ton des wohlbekannten Todtengeläutes durch die Seufzer des Regensturmes.
Das ist wirklich und wahrhaftig die Sterbeglocke!? sprach er.
"Onkel Nasus ist todt!" sagte die Alte.
Arme Tieletunke! fügte Anton hinzu. Die Tur- teltaube stieß ein ängstliches Gurren aus.
Die Glocken bebten fort, stärker oder schwächer, je nachdem der wechselnde Wind sich wendete.
"Der Wind springt auch herum, wie wenn er nicht wüßte, was mit ihm werden soll. Aber bald setzt er sich fest, im Morgen; das spür' ich an meinen Gliedern. Dann haben wir helles, klares Wetter. Morgen den ganzen Tag. Und dann einen schönen reinen Herbstabend. Einen schönen Abend, mein Anton, mit buntem Blätterwerk, wie gemalt. Roth- kehlchen, Schneekönige und Blaumeisen in den Sträuchern. Ach, wie sanft wird sich's da sterben! Weine nicht, Anton! Jch will mein Lieblingslied beten, vom alten Benjamin Schmolck, den Deines Großvaters Vater als Schüler in Schweidnitz noch gekannt, den er mit zu Grabe getragen hat. Deinem
Du phantaſierſt, Großmutter! rief Anton angſt- erfuͤllt. Und kaum hatte er’s gerufen, ſo drang der erſte Ton des wohlbekannten Todtengelaͤutes durch die Seufzer des Regenſturmes.
Das iſt wirklich und wahrhaftig die Sterbeglocke!? ſprach er.
„Onkel Naſus iſt todt!“ ſagte die Alte.
Arme Tieletunke! fuͤgte Anton hinzu. Die Tur- teltaube ſtieß ein aͤngſtliches Gurren aus.
Die Glocken bebten fort, ſtaͤrker oder ſchwaͤcher, je nachdem der wechſelnde Wind ſich wendete.
„Der Wind ſpringt auch herum, wie wenn er nicht wuͤßte, was mit ihm werden ſoll. Aber bald ſetzt er ſich feſt, im Morgen; das ſpuͤr’ ich an meinen Gliedern. Dann haben wir helles, klares Wetter. Morgen den ganzen Tag. Und dann einen ſchoͤnen reinen Herbſtabend. Einen ſchoͤnen Abend, mein Anton, mit buntem Blaͤtterwerk, wie gemalt. Roth- kehlchen, Schneekoͤnige und Blaumeiſen in den Straͤuchern. Ach, wie ſanft wird ſich’s da ſterben! Weine nicht, Anton! Jch will mein Lieblingslied beten, vom alten Benjamin Schmolck, den Deines Großvaters Vater als Schuͤler in Schweidnitz noch gekannt, den er mit zu Grabe getragen hat. Deinem
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0212"n="196"/><p>Du phantaſierſt, Großmutter! rief Anton angſt-<lb/>
erfuͤllt. Und kaum hatte er’s gerufen, ſo drang der<lb/>
erſte Ton des wohlbekannten Todtengelaͤutes durch<lb/>
die Seufzer des Regenſturmes.</p><lb/><p>Das iſt wirklich und wahrhaftig die Sterbeglocke!?<lb/>ſprach er.</p><lb/><p>„Onkel Naſus iſt todt!“ſagte die Alte.</p><lb/><p>Arme Tieletunke! fuͤgte Anton hinzu. Die Tur-<lb/>
teltaube ſtieß ein aͤngſtliches Gurren aus.</p><lb/><p>Die Glocken bebten fort, ſtaͤrker oder ſchwaͤcher,<lb/>
je nachdem der wechſelnde Wind ſich wendete.</p><lb/><p>„Der Wind ſpringt auch herum, wie wenn er<lb/>
nicht wuͤßte, was mit ihm werden ſoll. Aber bald<lb/>ſetzt er ſich feſt, im Morgen; das ſpuͤr’ ich an meinen<lb/>
Gliedern. Dann haben wir helles, klares Wetter.<lb/>
Morgen den ganzen Tag. Und dann einen ſchoͤnen<lb/>
reinen Herbſtabend. Einen ſchoͤnen Abend, mein<lb/>
Anton, mit buntem Blaͤtterwerk, wie gemalt. Roth-<lb/>
kehlchen, Schneekoͤnige und Blaumeiſen in den<lb/>
Straͤuchern. Ach, wie ſanft wird ſich’s da ſterben!<lb/>
Weine nicht, Anton! Jch will mein Lieblingslied<lb/>
beten, vom alten Benjamin Schmolck, den Deines<lb/>
Großvaters Vater als Schuͤler in Schweidnitz noch<lb/>
gekannt, den er mit zu Grabe getragen hat. Deinem<lb/></p></div></body></text></TEI>
[196/0212]
Du phantaſierſt, Großmutter! rief Anton angſt-
erfuͤllt. Und kaum hatte er’s gerufen, ſo drang der
erſte Ton des wohlbekannten Todtengelaͤutes durch
die Seufzer des Regenſturmes.
Das iſt wirklich und wahrhaftig die Sterbeglocke!?
ſprach er.
„Onkel Naſus iſt todt!“ ſagte die Alte.
Arme Tieletunke! fuͤgte Anton hinzu. Die Tur-
teltaube ſtieß ein aͤngſtliches Gurren aus.
Die Glocken bebten fort, ſtaͤrker oder ſchwaͤcher,
je nachdem der wechſelnde Wind ſich wendete.
„Der Wind ſpringt auch herum, wie wenn er
nicht wuͤßte, was mit ihm werden ſoll. Aber bald
ſetzt er ſich feſt, im Morgen; das ſpuͤr’ ich an meinen
Gliedern. Dann haben wir helles, klares Wetter.
Morgen den ganzen Tag. Und dann einen ſchoͤnen
reinen Herbſtabend. Einen ſchoͤnen Abend, mein
Anton, mit buntem Blaͤtterwerk, wie gemalt. Roth-
kehlchen, Schneekoͤnige und Blaumeiſen in den
Straͤuchern. Ach, wie ſanft wird ſich’s da ſterben!
Weine nicht, Anton! Jch will mein Lieblingslied
beten, vom alten Benjamin Schmolck, den Deines
Großvaters Vater als Schuͤler in Schweidnitz noch
gekannt, den er mit zu Grabe getragen hat. Deinem
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Holtei, Karl von: Die Vagabunden. Bd. 1. Breslau, 1852, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/holtei_vagabunden01_1852/212>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.