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[Hoffmann, E. T. A.]: Nachtstücke. Bd. 2. Berlin, 1817.

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trug. Es war Schillers Geisterseher. Ich las
und las, und erhitzte meine Fantasie immer mehr
und mehr. Ich kam zu der mit dem mächtigsten
Zauber ergreifenden Erzählung von dem Hochzeit¬
fest bei dem Grafen von V. -- Gerade wie Jero¬
nimo's blutige Gestalt eintritt, springt mit einem
gewaltigen Schlage die Thür auf, die in den
Vorsaal führt. -- Entsetzt fahre ich in die Höhe,
das Buch fällt mir aus den Händen -- Aber in
demselben Augenblick ist alles still und ich schäme
mich über mein kindisches Erschrecken! -- Mag es
seyn, daß durch die durchströmende Zugluft, oder
auf andere Weise die Thür aufgesprengt wurde.
-- Es ist nichts -- meine überreizte Fantasie bil¬
det jede natürliche Erscheinung gespenstisch! -- So
beschwichtigt, nehme ich das Buch von der Erde
auf und werfe mich wieder in den Lehnstuhl -- da
geht es leise und langsam mit abgemessenen Tritten
quer über den Saal hin, und dazwischen seufzt und
ächzt es, und in diesem Seufzen, diesem Aechzen
liegt der Ausdruck des tiefsten menschlichen Leidens,

trug. Es war Schillers Geiſterſeher. Ich las
und las, und erhitzte meine Fantaſie immer mehr
und mehr. Ich kam zu der mit dem maͤchtigſten
Zauber ergreifenden Erzaͤhlung von dem Hochzeit¬
feſt bei dem Grafen von V. — Gerade wie Jero¬
nimo's blutige Geſtalt eintritt, ſpringt mit einem
gewaltigen Schlage die Thuͤr auf, die in den
Vorſaal fuͤhrt. — Entſetzt fahre ich in die Hoͤhe,
das Buch faͤllt mir aus den Haͤnden — Aber in
demſelben Augenblick iſt alles ſtill und ich ſchaͤme
mich uͤber mein kindiſches Erſchrecken! — Mag es
ſeyn, daß durch die durchſtroͤmende Zugluft, oder
auf andere Weiſe die Thuͤr aufgeſprengt wurde.
— Es iſt nichts — meine uͤberreizte Fantaſie bil¬
det jede natuͤrliche Erſcheinung geſpenſtiſch! — So
beſchwichtigt, nehme ich das Buch von der Erde
auf und werfe mich wieder in den Lehnſtuhl — da
geht es leiſe und langſam mit abgemeſſenen Tritten
quer uͤber den Saal hin, und dazwiſchen ſeufzt und
aͤchzt es, und in dieſem Seufzen, dieſem Aechzen
liegt der Ausdruck des tiefſten menſchlichen Leidens,

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[93/0101] trug. Es war Schillers Geiſterſeher. Ich las und las, und erhitzte meine Fantaſie immer mehr und mehr. Ich kam zu der mit dem maͤchtigſten Zauber ergreifenden Erzaͤhlung von dem Hochzeit¬ feſt bei dem Grafen von V. — Gerade wie Jero¬ nimo's blutige Geſtalt eintritt, ſpringt mit einem gewaltigen Schlage die Thuͤr auf, die in den Vorſaal fuͤhrt. — Entſetzt fahre ich in die Hoͤhe, das Buch faͤllt mir aus den Haͤnden — Aber in demſelben Augenblick iſt alles ſtill und ich ſchaͤme mich uͤber mein kindiſches Erſchrecken! — Mag es ſeyn, daß durch die durchſtroͤmende Zugluft, oder auf andere Weiſe die Thuͤr aufgeſprengt wurde. — Es iſt nichts — meine uͤberreizte Fantaſie bil¬ det jede natuͤrliche Erſcheinung geſpenſtiſch! — So beſchwichtigt, nehme ich das Buch von der Erde auf und werfe mich wieder in den Lehnſtuhl — da geht es leiſe und langſam mit abgemeſſenen Tritten quer uͤber den Saal hin, und dazwiſchen ſeufzt und aͤchzt es, und in dieſem Seufzen, dieſem Aechzen liegt der Ausdruck des tiefſten menſchlichen Leidens,

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Zitationshilfe: [Hoffmann, E. T. A.]: Nachtstücke. Bd. 2. Berlin, 1817, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hoffmann_nachtstuecke02_1817/101>, abgerufen am 22.11.2024.