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Hoffmann, E. T. A.: Meister Floh. Frankfurt (Main), 1822.

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Wie? sprach er zu sich selbst, ein Mensch der
die geheimsten Gedanken seiner Brüder erforscht, bringt
über den diese verhängnißvolle Gabe nicht jenes ent¬
setzliche Verhängniß, welches den ewigen Juden traf,
der durch das bunteste Gewühl der Welt, ohne Freu¬
de, ohne Hoffnung, ohne Schmerz, in dumpfer
Gleichgültigkeit, die das Caput mortuum der Ver¬
zweiflung ist, wie durch eine unwirthbare trostlose
Einöde wandelte?

Immer aufs neue hoffend, immer aufs neue
vertrauend und immer wieder bitter getäuscht, wie
kann es anders möglich seyn, als daß Mißtrauen,
böser Argwohn, Haß, Rachsucht in der Seele sich
fest nisten und jede Spur des wahrhaft menschlichen
Prinzips, das sich ausspricht in mildem Vertrauen,
in frommer Gutmüthigkeit, wegzehren muß? Nein!
dein freundliches Gesicht, deine glatten Worte sollen
mich nicht täuschen, du, in dessen tiefem Innern
vielleicht unverdienter Haß gegen mich verborgen; ich
will dich für meinen Freund halten, ich will dir Gu¬
tes erzeigen, wie ich nur kann, ich will dir meine
Seele erschließen, weil es mir wohl thut, und das
bittre Gefühl des Augenblicks, wenn du mich ent¬
täuschest, ist gering zu achten gegen die Freuden ei¬
nes schönen vergangenen Traumes. Und selbst die

Wie? ſprach er zu ſich ſelbſt, ein Menſch der
die geheimſten Gedanken ſeiner Brüder erforſcht, bringt
über den dieſe verhängnißvolle Gabe nicht jenes ent¬
ſetzliche Verhängniß, welches den ewigen Juden traf,
der durch das bunteſte Gewühl der Welt, ohne Freu¬
de, ohne Hoffnung, ohne Schmerz, in dumpfer
Gleichgültigkeit, die das Caput mortuum der Ver¬
zweiflung iſt, wie durch eine unwirthbare troſtloſe
Einöde wandelte?

Immer aufs neue hoffend, immer aufs neue
vertrauend und immer wieder bitter getäuſcht, wie
kann es anders möglich ſeyn, als daß Mißtrauen,
böſer Argwohn, Haß, Rachſucht in der Seele ſich
feſt niſten und jede Spur des wahrhaft menſchlichen
Prinzips, das ſich ausſpricht in mildem Vertrauen,
in frommer Gutmüthigkeit, wegzehren muß? Nein!
dein freundliches Geſicht, deine glatten Worte ſollen
mich nicht täuſchen, du, in deſſen tiefem Innern
vielleicht unverdienter Haß gegen mich verborgen; ich
will dich für meinen Freund halten, ich will dir Gu¬
tes erzeigen, wie ich nur kann, ich will dir meine
Seele erſchließen, weil es mir wohl thut, und das
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nes ſchönen vergangenen Traumes. Und ſelbſt die

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[249/0254] Wie? ſprach er zu ſich ſelbſt, ein Menſch der die geheimſten Gedanken ſeiner Brüder erforſcht, bringt über den dieſe verhängnißvolle Gabe nicht jenes ent¬ ſetzliche Verhängniß, welches den ewigen Juden traf, der durch das bunteſte Gewühl der Welt, ohne Freu¬ de, ohne Hoffnung, ohne Schmerz, in dumpfer Gleichgültigkeit, die das Caput mortuum der Ver¬ zweiflung iſt, wie durch eine unwirthbare troſtloſe Einöde wandelte? Immer aufs neue hoffend, immer aufs neue vertrauend und immer wieder bitter getäuſcht, wie kann es anders möglich ſeyn, als daß Mißtrauen, böſer Argwohn, Haß, Rachſucht in der Seele ſich feſt niſten und jede Spur des wahrhaft menſchlichen Prinzips, das ſich ausſpricht in mildem Vertrauen, in frommer Gutmüthigkeit, wegzehren muß? Nein! dein freundliches Geſicht, deine glatten Worte ſollen mich nicht täuſchen, du, in deſſen tiefem Innern vielleicht unverdienter Haß gegen mich verborgen; ich will dich für meinen Freund halten, ich will dir Gu¬ tes erzeigen, wie ich nur kann, ich will dir meine Seele erſchließen, weil es mir wohl thut, und das bittre Gefühl des Augenblicks, wenn du mich ent¬ täuſcheſt, iſt gering zu achten gegen die Freuden ei¬ nes ſchönen vergangenen Traumes. Und ſelbſt die

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Zitationshilfe: Hoffmann, E. T. A.: Meister Floh. Frankfurt (Main), 1822, S. 249. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hoffmann_floh_1822/254>, abgerufen am 28.04.2024.