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Hölderlin, Friedrich: Hyperion. Zweiter Band. Tübingen, 1799.

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Wir besuchten noch all' unsere liebsten Pfade, Diotima und ich, entschwundne seelige Stunden begegneten uns überall.

Wir erinnerten uns des vergangenen Mais, wir hätten die Erde noch nie so gesehen, wie damals, meinten wir, sie wäre verwandelt gewesen, eine silberne Wolke von Blüthen, eine freudige Lebensflamme, entledigt alles gröberen Stoffs.

Ach! es war alles so voll Lust und Hoffnung, rief Diotima, so voll unaufhörlichen Wachstums und doch auch so mühelos, so seeligruhig, wie ein Kind, das vor sich hin spielt, und nicht weiter denkt.

Daran, rief ich, erkenn' ich sie, die Seele der Natur, an diesem stillen Feuer, an diesem Zögern in ihrer mächtigen Eile.

Und es ist den Glüklichen so lieb, diß Zögern, rief Diotima; weist du? wir standen einmal des Abends zusammen auf der Brüke, nach starkem Gewitter, und das rothe Berggewässer schoß, wie ein Pfeil, unter uns weg, aber daneben grünt' in Ruhe der Wald, und die hellen Buchenblätter regten sich kaum. Da that es uns so wohl, daß uns das seelenvolle Grün nicht auch so wegflog, wie der Bach, und der schöne Frühling uns so still hielt, wie ein

Wir besuchten noch all’ unsere liebsten Pfade, Diotima und ich, entschwundne seelige Stunden begegneten uns überall.

Wir erinnerten uns des vergangenen Mais, wir hätten die Erde noch nie so gesehen, wie damals, meinten wir, sie wäre verwandelt gewesen, eine silberne Wolke von Blüthen, eine freudige Lebensflamme, entledigt alles gröberen Stoffs.

Ach! es war alles so voll Lust und Hoffnung, rief Diotima, so voll unaufhörlichen Wachstums und doch auch so mühelos, so seeligruhig, wie ein Kind, das vor sich hin spielt, und nicht weiter denkt.

Daran, rief ich, erkenn’ ich sie, die Seele der Natur, an diesem stillen Feuer, an diesem Zögern in ihrer mächtigen Eile.

Und es ist den Glüklichen so lieb, diß Zögern, rief Diotima; weist du? wir standen einmal des Abends zusammen auf der Brüke, nach starkem Gewitter, und das rothe Berggewässer schoß, wie ein Pfeil, unter uns weg, aber daneben grünt’ in Ruhe der Wald, und die hellen Buchenblätter regten sich kaum. Da that es uns so wohl, daß uns das seelenvolle Grün nicht auch so wegflog, wie der Bach, und der schöne Frühling uns so still hielt, wie ein

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[0004] Wir besuchten noch all’ unsere liebsten Pfade, Diotima und ich, entschwundne seelige Stunden begegneten uns überall. Wir erinnerten uns des vergangenen Mais, wir hätten die Erde noch nie so gesehen, wie damals, meinten wir, sie wäre verwandelt gewesen, eine silberne Wolke von Blüthen, eine freudige Lebensflamme, entledigt alles gröberen Stoffs. Ach! es war alles so voll Lust und Hoffnung, rief Diotima, so voll unaufhörlichen Wachstums und doch auch so mühelos, so seeligruhig, wie ein Kind, das vor sich hin spielt, und nicht weiter denkt. Daran, rief ich, erkenn’ ich sie, die Seele der Natur, an diesem stillen Feuer, an diesem Zögern in ihrer mächtigen Eile. Und es ist den Glüklichen so lieb, diß Zögern, rief Diotima; weist du? wir standen einmal des Abends zusammen auf der Brüke, nach starkem Gewitter, und das rothe Berggewässer schoß, wie ein Pfeil, unter uns weg, aber daneben grünt’ in Ruhe der Wald, und die hellen Buchenblätter regten sich kaum. Da that es uns so wohl, daß uns das seelenvolle Grün nicht auch so wegflog, wie der Bach, und der schöne Frühling uns so still hielt, wie ein

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Zitationshilfe: Hölderlin, Friedrich: Hyperion. Zweiter Band. Tübingen, 1799, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hoelderlin_hyperion02_1799/4>, abgerufen am 26.04.2024.