Hölderlin, Friedrich: Hyperion. Erster Band. Tübingen, 1797.Sie waren, wie die schönen Sterne, verschwunden, und nur die Wonne der Wehmuth zeugt' in meiner Seele von ihnen. Ich trauerte; aber ich glaube, dass man unter den Seeligen auch so trauert. Sie war die Botin der Freude, diese Trauer, sie war die grauende Dämmerung, woran die unzähligen Rosen des Morgenroths sprossen. - Der glühende Sommertag hatte jezt alles in die dunkeln Schatten gescheucht. Auch um Diotima's Haus war alles still und leer, und die neidischen Vorhänge standen mir an allen Fenstern im Wege. Ich lebt' in Gedanken an sie. Wo bist du, dacht' ich, wo findet mein einsamer Geist dich, süsses Mädchen? Siehest du vor dich hin und sinnest? Hast du die Arbeit auf die Seite gelegt und stüzest den Arm aufs Knie und auf das Händchen das Haupt und giebst den lieblichen Gedanken dich hin? Dass ja nichts meine Friedliche störe, wenn sie mit süssen Phantasien ihr Herz erfrischt, dass ja nichts diese Traube betaste und den erquikenden Thau von den zarten Beeren ihr streife! So träumt' ich. Aber indess die Gedanken zwischen den Wänden des Hauses nach ihr späh- Sie waren, wie die schönen Sterne, verschwunden, und nur die Wonne der Wehmuth zeugt’ in meiner Seele von ihnen. Ich trauerte; aber ich glaube, dass man unter den Seeligen auch so trauert. Sie war die Botin der Freude, diese Trauer, sie war die grauende Dämmerung, woran die unzähligen Rosen des Morgenroths sprossen. – Der glühende Sommertag hatte jezt alles in die dunkeln Schatten gescheucht. Auch um Diotima’s Haus war alles still und leer, und die neidischen Vorhänge standen mir an allen Fenstern im Wege. Ich lebt’ in Gedanken an sie. Wo bist du, dacht’ ich, wo findet mein einsamer Geist dich, süsses Mädchen? Siehest du vor dich hin und sinnest? Hast du die Arbeit auf die Seite gelegt und stüzest den Arm aufs Knie und auf das Händchen das Haupt und giebst den lieblichen Gedanken dich hin? Dass ja nichts meine Friedliche störe, wenn sie mit süssen Phantasien ihr Herz erfrischt, dass ja nichts diese Traube betaste und den erquikenden Thau von den zarten Beeren ihr streife! So träumt’ ich. Aber indess die Gedanken zwischen den Wänden des Hauses nach ihr späh- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div type="chapter" n="2"> <p><pb facs="#f0132"/> Sie waren, wie die schönen Sterne, verschwunden, und nur die Wonne der Wehmuth zeugt’ in meiner Seele von ihnen.</p><lb/> <p>Ich trauerte; aber ich glaube, dass man unter den Seeligen auch so trauert. Sie war die Botin der Freude, diese Trauer, sie war die grauende Dämmerung, woran die unzähligen Rosen des Morgenroths sprossen. –</p><lb/> <p>Der glühende Sommertag hatte jezt alles in die dunkeln Schatten gescheucht. Auch um Diotima’s Haus war alles still und leer, und die neidischen Vorhänge standen mir an allen Fenstern im Wege.</p><lb/> <p>Ich lebt’ in Gedanken an sie. Wo bist du, dacht’ ich, wo findet mein einsamer Geist dich, süsses Mädchen? Siehest du vor dich hin und sinnest? Hast du die Arbeit auf die Seite gelegt und stüzest den Arm aufs Knie und auf das Händchen das Haupt und giebst den lieblichen Gedanken dich hin?</p><lb/> <p>Dass ja nichts meine Friedliche störe, wenn sie mit süssen Phantasien ihr Herz erfrischt, dass ja nichts diese Traube betaste und den erquikenden Thau von den zarten Beeren ihr streife!</p><lb/> <p>So träumt’ ich. Aber indess die Gedanken zwischen den Wänden des Hauses nach ihr späh- </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0132]
Sie waren, wie die schönen Sterne, verschwunden, und nur die Wonne der Wehmuth zeugt’ in meiner Seele von ihnen.
Ich trauerte; aber ich glaube, dass man unter den Seeligen auch so trauert. Sie war die Botin der Freude, diese Trauer, sie war die grauende Dämmerung, woran die unzähligen Rosen des Morgenroths sprossen. –
Der glühende Sommertag hatte jezt alles in die dunkeln Schatten gescheucht. Auch um Diotima’s Haus war alles still und leer, und die neidischen Vorhänge standen mir an allen Fenstern im Wege.
Ich lebt’ in Gedanken an sie. Wo bist du, dacht’ ich, wo findet mein einsamer Geist dich, süsses Mädchen? Siehest du vor dich hin und sinnest? Hast du die Arbeit auf die Seite gelegt und stüzest den Arm aufs Knie und auf das Händchen das Haupt und giebst den lieblichen Gedanken dich hin?
Dass ja nichts meine Friedliche störe, wenn sie mit süssen Phantasien ihr Herz erfrischt, dass ja nichts diese Traube betaste und den erquikenden Thau von den zarten Beeren ihr streife!
So träumt’ ich. Aber indess die Gedanken zwischen den Wänden des Hauses nach ihr späh-
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Zitationshilfe: | Hölderlin, Friedrich: Hyperion. Erster Band. Tübingen, 1797, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hoelderlin_hyperion01_1797/132>, abgerufen am 16.07.2024. |