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Johann Gottfried, Hoche: Vertraute Briefe über die jetzige abentheuerliche Lesesucht. Hannover, 1794.

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daß mancher Schriftsteller dieser Art nicht die
Absicht hat, die Jmmoralität zu vermehren;
wird aber seine Absicht immer richtig verstanden?

Wahre Moralität, Ruhe des Geistes, Zu-
friedenheit, hängt von Wahrheit ab; Jrthum
hat, wo nicht immer doch meistentheils, das
Gegentheil zur Folge, und doch greifen wir so
gern darnach, und lassen die Wahrheit zur Seite
liegen. Das Vorurtheil der Faulheit sucht
nicht selten einen Schlupfwinkel auf. Was
bringt man von dem Kampfplatze mit, wo man
Helden aus überirdischen und unterirdischen Re-
gionen sich herumtummeln sahe, wo man den
Menschen vergaß, und das, was in der wirkli-
chen Welt zu suchen ist, und was glücklich
macht, wo man sich nur dabei aufhielt, wo
nichts zu begreifen ist? was bleibt übrig in dem
Gedächtniß, wenn man das Buch weggelegt
hat? in dem einen Winkel eine Leere, und in
dem andern ein Chaos von Chimären, die noch
ärger sind, als jenes Vakuum. Man sollte bei nahe
hieraus einen Beweis für oder gegen den horrorem
vacui
hernehmen können. -- Für den Geist und für
das moralische Leben ist nichts gewonnen. Die
Einbildungskraft wird fürchterlich beschäftigt,
und die Empfindungen verstimmt. Gehört nicht
ihr richtiges Verhältniß zum Glück des Lebens?
Die Harmonie derselben gehört wenigstens zu

daß mancher Schriftſteller dieſer Art nicht die
Abſicht hat, die Jmmoralitaͤt zu vermehren;
wird aber ſeine Abſicht immer richtig verſtanden?

Wahre Moralitaͤt, Ruhe des Geiſtes, Zu-
friedenheit, haͤngt von Wahrheit ab; Jrthum
hat, wo nicht immer doch meiſtentheils, das
Gegentheil zur Folge, und doch greifen wir ſo
gern darnach, und laſſen die Wahrheit zur Seite
liegen. Das Vorurtheil der Faulheit ſucht
nicht ſelten einen Schlupfwinkel auf. Was
bringt man von dem Kampfplatze mit, wo man
Helden aus uͤberirdiſchen und unterirdiſchen Re-
gionen ſich herumtummeln ſahe, wo man den
Menſchen vergaß, und das, was in der wirkli-
chen Welt zu ſuchen iſt, und was gluͤcklich
macht, wo man ſich nur dabei aufhielt, wo
nichts zu begreifen iſt? was bleibt uͤbrig in dem
Gedaͤchtniß, wenn man das Buch weggelegt
hat? in dem einen Winkel eine Leere, und in
dem andern ein Chaos von Chimaͤren, die noch
aͤrger ſind, als jenes Vakuum. Man ſollte bei nahe
hieraus einen Beweis fuͤr oder gegen den horrorem
vacui
hernehmen koͤnnen. — Fuͤr den Geiſt und fuͤr
das moraliſche Leben iſt nichts gewonnen. Die
Einbildungskraft wird fuͤrchterlich beſchaͤftigt,
und die Empfindungen verſtimmt. Gehoͤrt nicht
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[29/0029] daß mancher Schriftſteller dieſer Art nicht die Abſicht hat, die Jmmoralitaͤt zu vermehren; wird aber ſeine Abſicht immer richtig verſtanden? Wahre Moralitaͤt, Ruhe des Geiſtes, Zu- friedenheit, haͤngt von Wahrheit ab; Jrthum hat, wo nicht immer doch meiſtentheils, das Gegentheil zur Folge, und doch greifen wir ſo gern darnach, und laſſen die Wahrheit zur Seite liegen. Das Vorurtheil der Faulheit ſucht nicht ſelten einen Schlupfwinkel auf. Was bringt man von dem Kampfplatze mit, wo man Helden aus uͤberirdiſchen und unterirdiſchen Re- gionen ſich herumtummeln ſahe, wo man den Menſchen vergaß, und das, was in der wirkli- chen Welt zu ſuchen iſt, und was gluͤcklich macht, wo man ſich nur dabei aufhielt, wo nichts zu begreifen iſt? was bleibt uͤbrig in dem Gedaͤchtniß, wenn man das Buch weggelegt hat? in dem einen Winkel eine Leere, und in dem andern ein Chaos von Chimaͤren, die noch aͤrger ſind, als jenes Vakuum. Man ſollte bei nahe hieraus einen Beweis fuͤr oder gegen den horrorem vacui hernehmen koͤnnen. — Fuͤr den Geiſt und fuͤr das moraliſche Leben iſt nichts gewonnen. Die Einbildungskraft wird fuͤrchterlich beſchaͤftigt, und die Empfindungen verſtimmt. Gehoͤrt nicht ihr richtiges Verhaͤltniß zum Gluͤck des Lebens? Die Harmonie derſelben gehoͤrt wenigſtens zu

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Zitationshilfe: Johann Gottfried, Hoche: Vertraute Briefe über die jetzige abentheuerliche Lesesucht. Hannover, 1794, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hoche_lesesucht_1794/29>, abgerufen am 26.04.2024.