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Johann Gottfried, Hoche: Vertraute Briefe über die jetzige abentheuerliche Lesesucht. Hannover, 1794.

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Was werden Sie antworten, wenn ich ihre
Aufrichtigkeit in Anspruch nehme, und Sie bit-
te mir zu sagen: warum liest das weibliche Ge-
schlecht so gern schauderhafte Scenen? Jst es
blos der Trieb nach dem Wunderbaren: so schwei-
ge ich. Jst es blos zum Zeitvertreib: so läßt
sich nicht gut denken, wie diese Scenen ein an-
genehmer Zeitvertreib seyn können, und die Ein-
bildungskraft wird sie dafür bestrafen. Doch
vielleicht ist sie es grade, warum sie lesen, sie
wollen nicht allein in der Nacht träumen, son-
dern auch bei Tage, aber der Tagestraum ver-
dirbt nicht selten den nächtlichen, der sonst viel-
leicht angenehm seyn könnte. Wie manches Mäd-
chen mag sich nicht die Nacht mit schwarzen Gei-
stern oder der Prinzeßin Eboli beschäftigen, und
mit Kopfschmerzen und übeler Laune das Tages-
licht erblicken. Die Einbildungskraft schweift
schon genug aus, warum gibt man ihr so viele
Gegenstände? Bei dem Frauenzimmer ist ihr Be-
zirk zwar enge, aber desto stärker ist auch ihre
Kraft. Sie führt Bilder herbei, die sie sich
selbst gern verschweigen. Manche mag wol mit
ihrer Zofe ein Buch lesen, und mit ihr wett-
eifern, welche die stärkste Empfindung, die leb-
hafteste Vorstellung dabei hat. -- Das Ganze
wird vergessen, aber die fürchterlichen Vorstel-
lungen bleiben und dienen bei der viermaligen Toi-
lette zu interessanter Unterhaltung. -- Da die

Was werden Sie antworten, wenn ich ihre
Aufrichtigkeit in Anſpruch nehme, und Sie bit-
te mir zu ſagen: warum lieſt das weibliche Ge-
ſchlecht ſo gern ſchauderhafte Scenen? Jſt es
blos der Trieb nach dem Wunderbaren: ſo ſchwei-
ge ich. Jſt es blos zum Zeitvertreib: ſo laͤßt
ſich nicht gut denken, wie dieſe Scenen ein an-
genehmer Zeitvertreib ſeyn koͤnnen, und die Ein-
bildungskraft wird ſie dafuͤr beſtrafen. Doch
vielleicht iſt ſie es grade, warum ſie leſen, ſie
wollen nicht allein in der Nacht traͤumen, ſon-
dern auch bei Tage, aber der Tagestraum ver-
dirbt nicht ſelten den naͤchtlichen, der ſonſt viel-
leicht angenehm ſeyn koͤnnte. Wie manches Maͤd-
chen mag ſich nicht die Nacht mit ſchwarzen Gei-
ſtern oder der Prinzeßin Eboli beſchaͤftigen, und
mit Kopfſchmerzen und uͤbeler Laune das Tages-
licht erblicken. Die Einbildungskraft ſchweift
ſchon genug aus, warum gibt man ihr ſo viele
Gegenſtaͤnde? Bei dem Frauenzimmer iſt ihr Be-
zirk zwar enge, aber deſto ſtaͤrker iſt auch ihre
Kraft. Sie fuͤhrt Bilder herbei, die ſie ſich
ſelbſt gern verſchweigen. Manche mag wol mit
ihrer Zofe ein Buch leſen, und mit ihr wett-
eifern, welche die ſtaͤrkſte Empfindung, die leb-
hafteſte Vorſtellung dabei hat. — Das Ganze
wird vergeſſen, aber die fuͤrchterlichen Vorſtel-
lungen bleiben und dienen bei der viermaligen Toi-
lette zu intereſſanter Unterhaltung. — Da die

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[108/0108] Was werden Sie antworten, wenn ich ihre Aufrichtigkeit in Anſpruch nehme, und Sie bit- te mir zu ſagen: warum lieſt das weibliche Ge- ſchlecht ſo gern ſchauderhafte Scenen? Jſt es blos der Trieb nach dem Wunderbaren: ſo ſchwei- ge ich. Jſt es blos zum Zeitvertreib: ſo laͤßt ſich nicht gut denken, wie dieſe Scenen ein an- genehmer Zeitvertreib ſeyn koͤnnen, und die Ein- bildungskraft wird ſie dafuͤr beſtrafen. Doch vielleicht iſt ſie es grade, warum ſie leſen, ſie wollen nicht allein in der Nacht traͤumen, ſon- dern auch bei Tage, aber der Tagestraum ver- dirbt nicht ſelten den naͤchtlichen, der ſonſt viel- leicht angenehm ſeyn koͤnnte. Wie manches Maͤd- chen mag ſich nicht die Nacht mit ſchwarzen Gei- ſtern oder der Prinzeßin Eboli beſchaͤftigen, und mit Kopfſchmerzen und uͤbeler Laune das Tages- licht erblicken. Die Einbildungskraft ſchweift ſchon genug aus, warum gibt man ihr ſo viele Gegenſtaͤnde? Bei dem Frauenzimmer iſt ihr Be- zirk zwar enge, aber deſto ſtaͤrker iſt auch ihre Kraft. Sie fuͤhrt Bilder herbei, die ſie ſich ſelbſt gern verſchweigen. Manche mag wol mit ihrer Zofe ein Buch leſen, und mit ihr wett- eifern, welche die ſtaͤrkſte Empfindung, die leb- hafteſte Vorſtellung dabei hat. — Das Ganze wird vergeſſen, aber die fuͤrchterlichen Vorſtel- lungen bleiben und dienen bei der viermaligen Toi- lette zu intereſſanter Unterhaltung. — Da die

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Zitationshilfe: Johann Gottfried, Hoche: Vertraute Briefe über die jetzige abentheuerliche Lesesucht. Hannover, 1794, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hoche_lesesucht_1794/108>, abgerufen am 24.11.2024.