Von je her hatte meine Mutter die Ge- wohnheit gehabt, sich den Morgen vorher, ehe sie zur Communion gieng, die Füße zu wa- schen. Das war ihr ein so nothwendiger Vorhergang, als ein Präludium vor dem Lie- de. Auch jetzo hatte sie zu diesem Ende ein Fußbad veranstaltet. Ohne alle Specerey! Sie ersuchte ihre Gesellschafterin, die Pastor- wittwe, dieses Fußwaschen zu übernehmen, und bat sie, aus dem fünften Capitel des ersten Briefes an den Timotheus, den neunten und zehnten Vers aufzuschlagen und laut zu lesen: Laß keine Wittwe erwählet werden unter sechzig Jahren, und die da gewesen sey Ei- nes Mannes Weib: und die ein Zeugnis habe guter Werke, so sie Kinder aufgezo- gen hat, so sie gastfrey gewesen ist, so sie der Heiligen Füße gewaschen hat, so sie den Trübseligen Handreichung gethan hat, so sie allem guten Werk nachkommen ist. Die Pastorwittwe, die nur einmahl geheyra- thet gewesen, freyte sich herzlich über diese Worte, die wie auf sie zeigend waren, und war bereit, diese ehrwürdige Ceremonie zu verrichten, da meine Mutter ihr die Ein- setzungsworte laut verlesen hieß. Sie fieng also, nachdem sie sich mit dem weißen Schurz,
den
Von je her hatte meine Mutter die Ge- wohnheit gehabt, ſich den Morgen vorher, ehe ſie zur Communion gieng, die Fuͤße zu wa- ſchen. Das war ihr ein ſo nothwendiger Vorhergang, als ein Praͤludium vor dem Lie- de. Auch jetzo hatte ſie zu dieſem Ende ein Fußbad veranſtaltet. Ohne alle Specerey! Sie erſuchte ihre Geſellſchafterin, die Paſtor- wittwe, dieſes Fußwaſchen zu uͤbernehmen, und bat ſie, aus dem fuͤnften Capitel des erſten Briefes an den Timotheus, den neunten und zehnten Vers aufzuſchlagen und laut zu leſen: Laß keine Wittwe erwaͤhlet werden unter ſechzig Jahren, und die da geweſen ſey Ei- nes Mannes Weib: und die ein Zeugnis habe guter Werke, ſo ſie Kinder aufgezo- gen hat, ſo ſie gaſtfrey geweſen iſt, ſo ſie der Heiligen Fuͤße gewaſchen hat, ſo ſie den Truͤbſeligen Handreichung gethan hat, ſo ſie allem guten Werk nachkommen iſt. Die Paſtorwittwe, die nur einmahl geheyra- thet geweſen, freyte ſich herzlich uͤber dieſe Worte, die wie auf ſie zeigend waren, und war bereit, dieſe ehrwuͤrdige Ceremonie zu verrichten, da meine Mutter ihr die Ein- ſetzungsworte laut verleſen hieß. Sie fieng alſo, nachdem ſie ſich mit dem weißen Schurz,
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Von je her hatte meine Mutter die Ge-
wohnheit gehabt, ſich den Morgen vorher,
ehe ſie zur Communion gieng, die Fuͤße zu wa-
ſchen. Das war ihr ein ſo nothwendiger
Vorhergang, als ein Praͤludium vor dem Lie-
de. Auch jetzo hatte ſie zu dieſem Ende ein
Fußbad veranſtaltet. Ohne alle Specerey!
Sie erſuchte ihre Geſellſchafterin, die Paſtor-
wittwe, dieſes Fußwaſchen zu uͤbernehmen, und
bat ſie, aus dem fuͤnften Capitel des erſten
Briefes an den Timotheus, den neunten und
zehnten Vers aufzuſchlagen und laut zu leſen:
Laß keine Wittwe erwaͤhlet werden unter
ſechzig Jahren, und die da geweſen ſey Ei-
nes Mannes Weib: und die ein Zeugnis
habe guter Werke, ſo ſie Kinder aufgezo-
gen hat, ſo ſie gaſtfrey geweſen iſt, ſo ſie
der Heiligen Fuͤße gewaſchen hat, ſo ſie den
Truͤbſeligen Handreichung gethan hat, ſo
ſie allem guten Werk nachkommen iſt.
Die Paſtorwittwe, die nur einmahl geheyra-
thet geweſen, freyte ſich herzlich uͤber dieſe
Worte, die wie auf ſie zeigend waren, und
war bereit, dieſe ehrwuͤrdige Ceremonie zu
verrichten, da meine Mutter ihr die Ein-
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alſo, nachdem ſie ſich mit dem weißen Schurz,
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Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 3,2. Berlin, 1781, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe0302_1781/104>, abgerufen am 22.11.2024.
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