Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 3,1. Berlin, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

Nur den Vormittag, nur die Predigtstunde.
Ich sah Minen deines Vaters Predigt hören
über: wir haben hier keine bleibende Stäte,
sondern die zukünftige suchen wir, welche dir
dein Vater auf mein Zudringen, wie sie da
geht und steht, senden wird! O Gott, wie
hörte Mine diese Predigt, und ich, wie sah
ich sie hören! Gleich dacht' ich, ein Mäd-
chen, das so hören kann, kann das böse seyn?
Es kann nicht. Ich sah Minen manches Pre-
digtwort befeuchten mit ihren Thränen! Ein
warmer fruchtbarer Regen zur Seligkeit!
Ich sah sie Abschied von N. 5. nehmen, einen
sanften seligen Abschied! O möcht' ich doch
auch, wenn ich zum letztenmal in das Gottes-
haus gehe, von Num. 1. so Abschied nehmen,
und wenn es auch zu mir heißt: wir haben
hier keine bleibende Stäte, sondern die zu-
künftige suchen wir, so von hinnen gehen,
wie sie aus Num. 5. O hätt' ich doch nur
einen Buchstab von diesem Abschiede gemerkt,
da Minchen ihn nahm, nur ein Uhütchen, ein
Ipünktchen! Welch ein schreckliches Licht ist
mir jezt aufgegangen. Vorigen Sonnabend
gieng ich allein ins Gotteshaus, und wollte
versuchen, ob ich mich vielleicht in der Stille
mit Minens Bank versöhnen könnte? Lang-

sam
A a 2

Nur den Vormittag, nur die Predigtſtunde.
Ich ſah Minen deines Vaters Predigt hoͤren
uͤber: wir haben hier keine bleibende Staͤte,
ſondern die zukuͤnftige ſuchen wir, welche dir
dein Vater auf mein Zudringen, wie ſie da
geht und ſteht, ſenden wird! O Gott, wie
hoͤrte Mine dieſe Predigt, und ich, wie ſah
ich ſie hoͤren! Gleich dacht’ ich, ein Maͤd-
chen, das ſo hoͤren kann, kann das boͤſe ſeyn?
Es kann nicht. Ich ſah Minen manches Pre-
digtwort befeuchten mit ihren Thraͤnen! Ein
warmer fruchtbarer Regen zur Seligkeit!
Ich ſah ſie Abſchied von N. 5. nehmen, einen
ſanften ſeligen Abſchied! O moͤcht’ ich doch
auch, wenn ich zum letztenmal in das Gottes-
haus gehe, von Num. 1. ſo Abſchied nehmen,
und wenn es auch zu mir heißt: wir haben
hier keine bleibende Staͤte, ſondern die zu-
kuͤnftige ſuchen wir, ſo von hinnen gehen,
wie ſie aus Num. 5. O haͤtt’ ich doch nur
einen Buchſtab von dieſem Abſchiede gemerkt,
da Minchen ihn nahm, nur ein Uhuͤtchen, ein
Ipuͤnktchen! Welch ein ſchreckliches Licht iſt
mir jezt aufgegangen. Vorigen Sonnabend
gieng ich allein ins Gotteshaus, und wollte
verſuchen, ob ich mich vielleicht in der Stille
mit Minens Bank verſoͤhnen koͤnnte? Lang-

ſam
A a 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0379" n="371"/>
Nur den Vormittag, nur die Predigt&#x017F;tunde.<lb/>
Ich &#x017F;ah Minen deines Vaters Predigt ho&#x0364;ren<lb/>
u&#x0364;ber: wir haben hier keine bleibende Sta&#x0364;te,<lb/>
&#x017F;ondern die zuku&#x0364;nftige &#x017F;uchen wir, welche dir<lb/>
dein Vater auf mein Zudringen, wie &#x017F;ie da<lb/>
geht und &#x017F;teht, &#x017F;enden wird! O Gott, wie<lb/>
ho&#x0364;rte Mine die&#x017F;e Predigt, und ich, wie &#x017F;ah<lb/>
ich &#x017F;ie ho&#x0364;ren! Gleich dacht&#x2019; ich, ein Ma&#x0364;d-<lb/>
chen, das &#x017F;o ho&#x0364;ren kann, kann das bo&#x0364;&#x017F;e &#x017F;eyn?<lb/>
Es kann nicht. Ich &#x017F;ah Minen manches Pre-<lb/>
digtwort befeuchten mit ihren Thra&#x0364;nen! Ein<lb/>
warmer fruchtbarer Regen zur Seligkeit!<lb/>
Ich &#x017F;ah &#x017F;ie Ab&#x017F;chied von N. 5. nehmen, einen<lb/>
&#x017F;anften &#x017F;eligen Ab&#x017F;chied! O mo&#x0364;cht&#x2019; ich doch<lb/>
auch, wenn ich zum letztenmal in das Gottes-<lb/>
haus gehe, von Num. 1. &#x017F;o Ab&#x017F;chied nehmen,<lb/>
und wenn es auch zu mir heißt: wir haben<lb/>
hier keine bleibende Sta&#x0364;te, &#x017F;ondern die zu-<lb/>
ku&#x0364;nftige &#x017F;uchen wir, &#x017F;o von hinnen gehen,<lb/>
wie &#x017F;ie aus Num. 5. O ha&#x0364;tt&#x2019; ich doch nur<lb/>
einen Buch&#x017F;tab von die&#x017F;em Ab&#x017F;chiede gemerkt,<lb/>
da Minchen ihn nahm, nur ein Uhu&#x0364;tchen, ein<lb/>
Ipu&#x0364;nktchen! Welch ein &#x017F;chreckliches Licht i&#x017F;t<lb/>
mir <hi rendition="#fr">jezt</hi> aufgegangen. Vorigen Sonnabend<lb/>
gieng ich allein ins Gotteshaus, und wollte<lb/>
ver&#x017F;uchen, ob ich mich vielleicht in der Stille<lb/>
mit Minens Bank ver&#x017F;o&#x0364;hnen ko&#x0364;nnte? Lang-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">A a 2</fw><fw place="bottom" type="catch">&#x017F;am</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[371/0379] Nur den Vormittag, nur die Predigtſtunde. Ich ſah Minen deines Vaters Predigt hoͤren uͤber: wir haben hier keine bleibende Staͤte, ſondern die zukuͤnftige ſuchen wir, welche dir dein Vater auf mein Zudringen, wie ſie da geht und ſteht, ſenden wird! O Gott, wie hoͤrte Mine dieſe Predigt, und ich, wie ſah ich ſie hoͤren! Gleich dacht’ ich, ein Maͤd- chen, das ſo hoͤren kann, kann das boͤſe ſeyn? Es kann nicht. Ich ſah Minen manches Pre- digtwort befeuchten mit ihren Thraͤnen! Ein warmer fruchtbarer Regen zur Seligkeit! Ich ſah ſie Abſchied von N. 5. nehmen, einen ſanften ſeligen Abſchied! O moͤcht’ ich doch auch, wenn ich zum letztenmal in das Gottes- haus gehe, von Num. 1. ſo Abſchied nehmen, und wenn es auch zu mir heißt: wir haben hier keine bleibende Staͤte, ſondern die zu- kuͤnftige ſuchen wir, ſo von hinnen gehen, wie ſie aus Num. 5. O haͤtt’ ich doch nur einen Buchſtab von dieſem Abſchiede gemerkt, da Minchen ihn nahm, nur ein Uhuͤtchen, ein Ipuͤnktchen! Welch ein ſchreckliches Licht iſt mir jezt aufgegangen. Vorigen Sonnabend gieng ich allein ins Gotteshaus, und wollte verſuchen, ob ich mich vielleicht in der Stille mit Minens Bank verſoͤhnen koͤnnte? Lang- ſam A a 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe0301_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe0301_1781/379
Zitationshilfe: Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 3,1. Berlin, 1781, S. 371. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe0301_1781/379>, abgerufen am 22.07.2024.