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Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 3,1. Berlin, 1781.

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elender Mensch; wer wird ihn erlösen von
dem Leibe dieses Todes? Wir legen uns un-
ter drey und vier Schlösser. Die Perlen für
die Säue, die Diamanten in ein Kästchen.
Du lebst kurz, Mensch; allein ist ein kleiner
Mensch nicht ein ganzer Mensch? Wer an die
Weisheit kommt, hat seinen Lauf vollendet;
wer tugendhaft ist, ist alt, ohne graue Haare.
Unser Leben währet siebenzig Jahre; wenns
hoch kommt sinds achtzig Jahre. Der Tu-
gendhafte lebt drüber. Ein Tag ist bey Gott
tausend Jahr und beym klugen Menschen we-
nigstens ein Monat. Je klüger, je Zeit-
sparsamer! Zwischen Pflanzen, Thier und
Menschenleben, welch ein Unterschied! Die-
ser hat sein ganzes Leben verspielt, jener hat
zwölf pro Cent in gutem gangbaren cassen-
mäßigen und auf keinem Abschlage stehenden
Gelde gezogen; der hat den Homer gelesen,
dieser da weiß die Cometen auf Secunden zu
berechnen, die Gottlob mit der Erde jetzt gute
Freunde sind, und so freundlich zu uns kom-
men, als kämen sie zum Gevatterstande. Nur
wenige haben zu dieser ihrer Zeit bedacht, was
zu ihrem Frieden dienet, und sich die Fragen
woher? und wohin? aufgeworfen. Das Le-
ben ist eine Geschichte, wobey man nicht nach

der

elender Menſch; wer wird ihn erloͤſen von
dem Leibe dieſes Todes? Wir legen uns un-
ter drey und vier Schloͤſſer. Die Perlen fuͤr
die Saͤue, die Diamanten in ein Kaͤſtchen.
Du lebſt kurz, Menſch; allein iſt ein kleiner
Menſch nicht ein ganzer Menſch? Wer an die
Weisheit kommt, hat ſeinen Lauf vollendet;
wer tugendhaft iſt, iſt alt, ohne graue Haare.
Unſer Leben waͤhret ſiebenzig Jahre; wenns
hoch kommt ſinds achtzig Jahre. Der Tu-
gendhafte lebt druͤber. Ein Tag iſt bey Gott
tauſend Jahr und beym klugen Menſchen we-
nigſtens ein Monat. Je kluͤger, je Zeit-
ſparſamer! Zwiſchen Pflanzen, Thier und
Menſchenleben, welch ein Unterſchied! Die-
ſer hat ſein ganzes Leben verſpielt, jener hat
zwoͤlf pro Cent in gutem gangbaren caſſen-
maͤßigen und auf keinem Abſchlage ſtehenden
Gelde gezogen; der hat den Homer geleſen,
dieſer da weiß die Cometen auf Secunden zu
berechnen, die Gottlob mit der Erde jetzt gute
Freunde ſind, und ſo freundlich zu uns kom-
men, als kaͤmen ſie zum Gevatterſtande. Nur
wenige haben zu dieſer ihrer Zeit bedacht, was
zu ihrem Frieden dienet, und ſich die Fragen
woher? und wohin? aufgeworfen. Das Le-
ben iſt eine Geſchichte, wobey man nicht nach

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[178/0184] elender Menſch; wer wird ihn erloͤſen von dem Leibe dieſes Todes? Wir legen uns un- ter drey und vier Schloͤſſer. Die Perlen fuͤr die Saͤue, die Diamanten in ein Kaͤſtchen. Du lebſt kurz, Menſch; allein iſt ein kleiner Menſch nicht ein ganzer Menſch? Wer an die Weisheit kommt, hat ſeinen Lauf vollendet; wer tugendhaft iſt, iſt alt, ohne graue Haare. Unſer Leben waͤhret ſiebenzig Jahre; wenns hoch kommt ſinds achtzig Jahre. Der Tu- gendhafte lebt druͤber. Ein Tag iſt bey Gott tauſend Jahr und beym klugen Menſchen we- nigſtens ein Monat. Je kluͤger, je Zeit- ſparſamer! Zwiſchen Pflanzen, Thier und Menſchenleben, welch ein Unterſchied! Die- ſer hat ſein ganzes Leben verſpielt, jener hat zwoͤlf pro Cent in gutem gangbaren caſſen- maͤßigen und auf keinem Abſchlage ſtehenden Gelde gezogen; der hat den Homer geleſen, dieſer da weiß die Cometen auf Secunden zu berechnen, die Gottlob mit der Erde jetzt gute Freunde ſind, und ſo freundlich zu uns kom- men, als kaͤmen ſie zum Gevatterſtande. Nur wenige haben zu dieſer ihrer Zeit bedacht, was zu ihrem Frieden dienet, und ſich die Fragen woher? und wohin? aufgeworfen. Das Le- ben iſt eine Geſchichte, wobey man nicht nach der

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Zitationshilfe: Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 3,1. Berlin, 1781, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe0301_1781/184>, abgerufen am 23.11.2024.