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Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779.

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Leib war ein Engelskind; so passend gemacht,
daß der Engel nichts abschneiden durfte, wenn
er ein Menschengewand auf Gottes Befehl nö-
thig gehabt. Freylich sahe sie so schwindsüch-
tig nicht aus, wie das vornehme Ding in un-
serer Nachbarschaft, von der alles sagt, sie sey
die schönst' im Lande. Daß sich Gott erbarm!
Wer Annen sah, wust sicher, was Schönheit
sey. Wer sie nicht gesehen hatte, war zwei-
felhaft. Man verglich die andern Gesichter
nicht mehr mit der Natur, sondern mit Annen,
nicht mit der weißen Lilie den Busen, nicht mit
dem Himmelsblau das Aug, nicht mit einer
aufbrechenden Rose das Frische im Gesicht --
man verglich es mit Annen. Sie hat das von
Annen und jenes von Annen. So sprach jeder
wer Annen gesehen. Man hatte nicht nöthig,
sich herum zu thun und hier und da was in
der Natur zusammen zu suchen -- Anne war
alles zusammen. -- Sie war weiß; allein wer
auch eine Braune liebte, blieb stehen, wenn er
sie sah, und sagte laut: schön! Sie hatte so
was gesundweißes im Gesicht, daß man das
Blut rinnen sebn kounte. O ein schönes Blut!
Der ganze Himmel lag auf ihrem Gesicht!
weiß! roth! blau! Wenn man ihn im Klei-
nen wollte, sah man Annen an -- und ihre

Seele?

Leib war ein Engelskind; ſo paſſend gemacht,
daß der Engel nichts abſchneiden durfte, wenn
er ein Menſchengewand auf Gottes Befehl noͤ-
thig gehabt. Freylich ſahe ſie ſo ſchwindſuͤch-
tig nicht aus, wie das vornehme Ding in un-
ſerer Nachbarſchaft, von der alles ſagt, ſie ſey
die ſchoͤnſt’ im Lande. Daß ſich Gott erbarm!
Wer Annen ſah, wuſt ſicher, was Schoͤnheit
ſey. Wer ſie nicht geſehen hatte, war zwei-
felhaft. Man verglich die andern Geſichter
nicht mehr mit der Natur, ſondern mit Annen,
nicht mit der weißen Lilie den Buſen, nicht mit
dem Himmelsblau das Aug, nicht mit einer
aufbrechenden Roſe das Friſche im Geſicht —
man verglich es mit Annen. Sie hat das von
Annen und jenes von Annen. So ſprach jeder
wer Annen geſehen. Man hatte nicht noͤthig,
ſich herum zu thun und hier und da was in
der Natur zuſammen zu ſuchen — Anne war
alles zuſammen. — Sie war weiß; allein wer
auch eine Braune liebte, blieb ſtehen, wenn er
ſie ſah, und ſagte laut: ſchoͤn! Sie hatte ſo
was geſundweißes im Geſicht, daß man das
Blut rinnen ſebn kounte. O ein ſchoͤnes Blut!
Der ganze Himmel lag auf ihrem Geſicht!
weiß! roth! blau! Wenn man ihn im Klei-
nen wollte, ſah man Annen an — und ihre

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[606/0618] Leib war ein Engelskind; ſo paſſend gemacht, daß der Engel nichts abſchneiden durfte, wenn er ein Menſchengewand auf Gottes Befehl noͤ- thig gehabt. Freylich ſahe ſie ſo ſchwindſuͤch- tig nicht aus, wie das vornehme Ding in un- ſerer Nachbarſchaft, von der alles ſagt, ſie ſey die ſchoͤnſt’ im Lande. Daß ſich Gott erbarm! Wer Annen ſah, wuſt ſicher, was Schoͤnheit ſey. Wer ſie nicht geſehen hatte, war zwei- felhaft. Man verglich die andern Geſichter nicht mehr mit der Natur, ſondern mit Annen, nicht mit der weißen Lilie den Buſen, nicht mit dem Himmelsblau das Aug, nicht mit einer aufbrechenden Roſe das Friſche im Geſicht — man verglich es mit Annen. Sie hat das von Annen und jenes von Annen. So ſprach jeder wer Annen geſehen. Man hatte nicht noͤthig, ſich herum zu thun und hier und da was in der Natur zuſammen zu ſuchen — Anne war alles zuſammen. — Sie war weiß; allein wer auch eine Braune liebte, blieb ſtehen, wenn er ſie ſah, und ſagte laut: ſchoͤn! Sie hatte ſo was geſundweißes im Geſicht, daß man das Blut rinnen ſebn kounte. O ein ſchoͤnes Blut! Der ganze Himmel lag auf ihrem Geſicht! weiß! roth! blau! Wenn man ihn im Klei- nen wollte, ſah man Annen an — und ihre Seele?

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Zitationshilfe: Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779, S. 606. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe02_1779/618>, abgerufen am 24.11.2024.