stätische dreyhundertjährige Eiche, die die Ge- schichte des ganzen Waldes weiß, da steht sie unerschüttert, trotzt den Stürmen aller Weltgegenden, trotzt allem -- nur Gottes Donner nicht; wenn du dich vor jedem Winde bückest und dich windest, kriechst und wie ein Hofmann schmeichelst, damit jeder Wind dich nicht aushebe, und deine Wurzel aufdecke allen die vorübergehn! Grün bist du im Winter, wenn die Eiche, von ihrem könig- lichen Schmuck entkleidet, nach Art wahrer Größe sich nichts vor ihren Unterthanen her- aus nimmt. Ist aber das Kleid wahre Ho- heit? Wo ist dein Werth, wenn auf einem einzigen Eichenblatte sich ganze Geschlechter niederlassen, und du Nadeln statt Blätter zählest? Sieh nicht verächtlich, Tanne, auf die tief unten grünende Waldblume, die, wenn sie im Frühling aufgeht, und rings umher im nackten Walde alles öde und leer findet, sich erst im Thau badet, um desto heller und klärer zu dir hinauf zu blicken. und das erste Baumgrün zu sehen! Neige dich zu dieser aufgehenden Waldblume,Tanne, die du dich vor jedem nur rauschenden Winde so tief beugest! Blick her auf die Eiche, die keinem Unterthan, der zu ihr flieht, Schutz
und
ſtaͤtiſche dreyhundertjaͤhrige Eiche, die die Ge- ſchichte des ganzen Waldes weiß, da ſteht ſie unerſchuͤttert, trotzt den Stuͤrmen aller Weltgegenden, trotzt allem — nur Gottes Donner nicht; wenn du dich vor jedem Winde buͤckeſt und dich windeſt, kriechſt und wie ein Hofmann ſchmeichelſt, damit jeder Wind dich nicht aushebe, und deine Wurzel aufdecke allen die voruͤbergehn! Gruͤn biſt du im Winter, wenn die Eiche, von ihrem koͤnig- lichen Schmuck entkleidet, nach Art wahrer Groͤße ſich nichts vor ihren Unterthanen her- aus nimmt. Iſt aber das Kleid wahre Ho- heit? Wo iſt dein Werth, wenn auf einem einzigen Eichenblatte ſich ganze Geſchlechter niederlaſſen, und du Nadeln ſtatt Blaͤtter zaͤhleſt? Sieh nicht veraͤchtlich, Tanne, auf die tief unten gruͤnende Waldblume, die, wenn ſie im Fruͤhling aufgeht, und rings umher im nackten Walde alles oͤde und leer findet, ſich erſt im Thau badet, um deſto heller und klaͤrer zu dir hinauf zu blicken. und das erſte Baumgruͤn zu ſehen! Neige dich zu dieſer aufgehenden Waldblume,Tanne, die du dich vor jedem nur rauſchenden Winde ſo tief beugeſt! Blick her auf die Eiche, die keinem Unterthan, der zu ihr flieht, Schutz
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ſtaͤtiſche dreyhundertjaͤhrige Eiche, die die Ge-
ſchichte des ganzen Waldes weiß, da ſteht
ſie unerſchuͤttert, trotzt den Stuͤrmen aller
Weltgegenden, trotzt allem — nur Gottes
Donner nicht; wenn du dich vor jedem Winde
buͤckeſt und dich windeſt, kriechſt und wie ein
Hofmann ſchmeichelſt, damit jeder Wind dich
nicht aushebe, und deine Wurzel aufdecke
allen die voruͤbergehn! Gruͤn biſt du im
Winter, wenn die Eiche, von ihrem koͤnig-
lichen Schmuck entkleidet, nach Art wahrer
Groͤße ſich nichts vor ihren Unterthanen her-
aus nimmt. Iſt aber das Kleid wahre Ho-
heit? Wo iſt dein Werth, wenn auf einem
einzigen Eichenblatte ſich ganze Geſchlechter
niederlaſſen, und du Nadeln ſtatt Blaͤtter
zaͤhleſt? Sieh nicht veraͤchtlich, Tanne, auf
die tief unten gruͤnende Waldblume, die,
wenn ſie im Fruͤhling aufgeht, und rings
umher im nackten Walde alles oͤde und leer
findet, ſich erſt im Thau badet, um deſto
heller und klaͤrer zu dir hinauf zu blicken.
und das erſte Baumgruͤn zu ſehen! Neige
dich zu dieſer aufgehenden Waldblume,Tanne,
die du dich vor jedem nur rauſchenden Winde
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Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779, S. 602. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe02_1779/614>, abgerufen am 24.11.2024.
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