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Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779.

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Der Selige war ein großer Liebhaber
vom Vögelsang. Da er nicht mehr aus-
gehen, und ihn im Freyen hören konnte, hatt'
er verschiedene von diesen Sängern im Zim-
mer. -- Ihr Gesang soll mich auch im Ster-
ben nicht stören, pflegt' er zu sagen. Es ist
der Ausbruch der Freud' und der Unschuld,
es sind glückliche Geschöpfchen. Seine lezte
Verfügung war: seine Vögel nach seinem
Tod' ins Freye zu lassen. Zuweilen wünscht'
ich, hatt' er hinzugefügt, daß ich ihnen et-
was im Testament legiren könnte -- allein
was würd ihnen ein Legat gegen die weit und
breite Welt seyn, die ihnen eignet und gebüh-
ret. Mine war bey der Erfüllung dieses lez-
ten Willens, den der gute Pfarrer mit sehr
vieler Empfindung befolgte. Nach den er-
sten Begrüßungen an Minen war dies sein
Geschäfte. Sie brauchen kein Legat, sagte
der Prediger, diese Weltbürger. Auf jedem
Aestchen ist ihr Bette gemacht. Gott sey mit
euch, fügt' er hinzu, und ließ die Vögel flie-
gen.

Mine sank -- der gute Prediger ermun-
terte sie; allein er sahe, daß ihr das Herz
gebrochen war -- Sie war nicht mehr! --
Sie haben mich sterben gesehen, sagte sie zum

Pfar-

Der Selige war ein großer Liebhaber
vom Voͤgelſang. Da er nicht mehr aus-
gehen, und ihn im Freyen hoͤren konnte, hatt’
er verſchiedene von dieſen Saͤngern im Zim-
mer. — Ihr Geſang ſoll mich auch im Ster-
ben nicht ſtoͤren, pflegt’ er zu ſagen. Es iſt
der Ausbruch der Freud’ und der Unſchuld,
es ſind gluͤckliche Geſchoͤpfchen. Seine lezte
Verfuͤgung war: ſeine Voͤgel nach ſeinem
Tod’ ins Freye zu laſſen. Zuweilen wuͤnſcht’
ich, hatt’ er hinzugefuͤgt, daß ich ihnen et-
was im Teſtament legiren koͤnnte — allein
was wuͤrd ihnen ein Legat gegen die weit und
breite Welt ſeyn, die ihnen eignet und gebuͤh-
ret. Mine war bey der Erfuͤllung dieſes lez-
ten Willens, den der gute Pfarrer mit ſehr
vieler Empfindung befolgte. Nach den er-
ſten Begruͤßungen an Minen war dies ſein
Geſchaͤfte. Sie brauchen kein Legat, ſagte
der Prediger, dieſe Weltbuͤrger. Auf jedem
Aeſtchen iſt ihr Bette gemacht. Gott ſey mit
euch, fuͤgt’ er hinzu, und ließ die Voͤgel flie-
gen.

Mine ſank — der gute Prediger ermun-
terte ſie; allein er ſahe, daß ihr das Herz
gebrochen war — Sie war nicht mehr! —
Sie haben mich ſterben geſehen, ſagte ſie zum

Pfar-
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[414/0424] Der Selige war ein großer Liebhaber vom Voͤgelſang. Da er nicht mehr aus- gehen, und ihn im Freyen hoͤren konnte, hatt’ er verſchiedene von dieſen Saͤngern im Zim- mer. — Ihr Geſang ſoll mich auch im Ster- ben nicht ſtoͤren, pflegt’ er zu ſagen. Es iſt der Ausbruch der Freud’ und der Unſchuld, es ſind gluͤckliche Geſchoͤpfchen. Seine lezte Verfuͤgung war: ſeine Voͤgel nach ſeinem Tod’ ins Freye zu laſſen. Zuweilen wuͤnſcht’ ich, hatt’ er hinzugefuͤgt, daß ich ihnen et- was im Teſtament legiren koͤnnte — allein was wuͤrd ihnen ein Legat gegen die weit und breite Welt ſeyn, die ihnen eignet und gebuͤh- ret. Mine war bey der Erfuͤllung dieſes lez- ten Willens, den der gute Pfarrer mit ſehr vieler Empfindung befolgte. Nach den er- ſten Begruͤßungen an Minen war dies ſein Geſchaͤfte. Sie brauchen kein Legat, ſagte der Prediger, dieſe Weltbuͤrger. Auf jedem Aeſtchen iſt ihr Bette gemacht. Gott ſey mit euch, fuͤgt’ er hinzu, und ließ die Voͤgel flie- gen. Mine ſank — der gute Prediger ermun- terte ſie; allein er ſahe, daß ihr das Herz gebrochen war — Sie war nicht mehr! — Sie haben mich ſterben geſehen, ſagte ſie zum Pfar-

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Zitationshilfe: Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779, S. 414. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe02_1779/424>, abgerufen am 22.11.2024.