O Gott! wohin kann die Tugend kommen? Mine war entschlossen, sich das Leben zu nehmen, wenn man Gewalt brauchen sollte. Freylich würd ein' Casuist feiner distinguirt, und die Grenze richtiger abgemessen haben, wenn und zu welcher Zeit -- allein Gott der Herr läßt nicht durch Casuisten Recht sprechen und -- Sein Richter ist das Gewissen, sein Urtel nicht: in Sachen -- entgegen erkennen und sprechen wir, sondern: kommt und geht! Ich will in Gottes Hände fallen! Er ist gerecht, er ist barmherzig! Sie warf sich zur Erde und betet' an, den der gemacht hat Himmel und Erde, sie bat um Hofnung der Seligkeit, wenn sie eine Selbst- mörderin würde, um Verzeihung, wenn sie in der Art fehle! Sie betete: so du wilt Herr! Sünde zurechnen, Herr, wer kann, wer wird bestehen! Bey dir ist die Verge- bung -- und nach einer Weile: "erforsche mich, Herr, und, prüfe wie ich's meyne, wie ich's meyne! Sieh ob ich auf falschem Wege bin, und leite mich, führe mich zu- recht, auf den Weg zum Leben! Laß, wenn ich irre, Gnade für Recht ergehen! Gnade! Gnade! Wenn diese Hand! Mörder an die- sem Herzen wird, und es durchbohrt -- o
Gott!
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O Gott! wohin kann die Tugend kommen? Mine war entſchloſſen, ſich das Leben zu nehmen, wenn man Gewalt brauchen ſollte. Freylich wuͤrd ein’ Caſuiſt feiner diſtinguirt, und die Grenze richtiger abgemeſſen haben, wenn und zu welcher Zeit — allein Gott der Herr laͤßt nicht durch Caſuiſten Recht ſprechen und — Sein Richter iſt das Gewiſſen, ſein Urtel nicht: in Sachen — entgegen erkennen und ſprechen wir, ſondern: kommt und geht! Ich will in Gottes Haͤnde fallen! Er iſt gerecht, er iſt barmherzig! Sie warf ſich zur Erde und betet’ an, den der gemacht hat Himmel und Erde, ſie bat um Hofnung der Seligkeit, wenn ſie eine Selbſt- moͤrderin wuͤrde, um Verzeihung, wenn ſie in der Art fehle! Sie betete: ſo du wilt Herr! Suͤnde zurechnen, Herr, wer kann, wer wird beſtehen! Bey dir iſt die Verge- bung — und nach einer Weile: „erforſche mich, Herr, und, pruͤfe wie ich’s meyne, wie ich’s meyne! Sieh ob ich auf falſchem Wege bin, und leite mich, fuͤhre mich zu- recht, auf den Weg zum Leben! Laß, wenn ich irre, Gnade fuͤr Recht ergehen! Gnade! Gnade! Wenn dieſe Hand! Moͤrder an die- ſem Herzen wird, und es durchbohrt — o
Gott!
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O Gott! wohin kann die Tugend kommen?
Mine war entſchloſſen, ſich das Leben zu
nehmen, wenn man Gewalt brauchen ſollte.
Freylich wuͤrd ein’ Caſuiſt feiner diſtinguirt,
und die Grenze richtiger abgemeſſen haben,
wenn und zu welcher Zeit — allein Gott
der Herr laͤßt nicht durch Caſuiſten Recht
ſprechen und — Sein Richter iſt das Gewiſſen,
ſein Urtel nicht: in Sachen — entgegen
erkennen und ſprechen wir, ſondern:
kommt und geht! Ich will in Gottes Haͤnde
fallen! Er iſt gerecht, er iſt barmherzig! Sie
warf ſich zur Erde und betet’ an, den der
gemacht hat Himmel und Erde, ſie bat um
Hofnung der Seligkeit, wenn ſie eine Selbſt-
moͤrderin wuͤrde, um Verzeihung, wenn ſie
in der Art fehle! Sie betete: ſo du wilt
Herr! Suͤnde zurechnen, Herr, wer kann,
wer wird beſtehen! Bey dir iſt die Verge-
bung — und nach einer Weile: „erforſche
mich, Herr, und, pruͤfe wie ich’s meyne,
wie ich’s meyne! Sieh ob ich auf falſchem
Wege bin, und leite mich, fuͤhre mich zu-
recht, auf den Weg zum Leben! Laß, wenn
ich irre, Gnade fuͤr Recht ergehen! Gnade!
Gnade! Wenn dieſe Hand! Moͤrder an die-
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Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779, S. 377. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe02_1779/385>, abgerufen am 22.11.2024.
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