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Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779.

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ben wolte, müßte man Mitau beschreiben.
Ich fiel auf den Gedanken, indem ich dies
niederschrieb, ob nicht jede Residenz das Land
im verjüngten Maasstabe sey, allein ich habe
mich geirrt; es giebt so viel Ausnahmen, so
viel ungerathene Söhne bey dieser Regel,
daß die Regel selbst den Mutternamen Regel
nicht verdient. -- Unter dem Alltäglichen,
was auf der Reise vorkommt, fielen mir die
armen Menschen auf, die an Hecken sitzen,
und sie den Reisenden öfnen. In Wahr-
heit, dacht' ich, das können nicht alles Leute
von niedriger Geburt seyn. Ich sah' einen
alten Mann in einem dergleichen Diogenes-
häuschen am Heck, der einen so vortrefli-
chen Kopf hatte. -- Das war wenigstens
ein Litteratus! und wo anders sah ich ein
armes krankes Weib, die in der größten Be-
hendigkeit aus ihrer Behausung kam, und
Hand ans Werk legen wolte; allein kräm-
pfigte Zufälle lähmten ihr stehendes Fußes
die Hand. -- Es war rührend anzusehn.
Die Preußen wolten ihr keinen Schilling ge-
ben, weil sie ein altes Weib war, und der
Krämpfe wegen das Heck nicht öfnen konn-
te; ich entschädigte sie zwar, allein ich mußte
die Entschädigung auf Gottes Acker, auf die

Erde,

ben wolte, muͤßte man Mitau beſchreiben.
Ich fiel auf den Gedanken, indem ich dies
niederſchrieb, ob nicht jede Reſidenz das Land
im verjuͤngten Maasſtabe ſey, allein ich habe
mich geirrt; es giebt ſo viel Ausnahmen, ſo
viel ungerathene Soͤhne bey dieſer Regel,
daß die Regel ſelbſt den Mutternamen Regel
nicht verdient. — Unter dem Alltaͤglichen,
was auf der Reiſe vorkommt, fielen mir die
armen Menſchen auf, die an Hecken ſitzen,
und ſie den Reiſenden oͤfnen. In Wahr-
heit, dacht’ ich, das koͤnnen nicht alles Leute
von niedriger Geburt ſeyn. Ich ſah’ einen
alten Mann in einem dergleichen Diogenes-
haͤuschen am Heck, der einen ſo vortrefli-
chen Kopf hatte. — Das war wenigſtens
ein Litteratus! und wo anders ſah ich ein
armes krankes Weib, die in der groͤßten Be-
hendigkeit aus ihrer Behauſung kam, und
Hand ans Werk legen wolte; allein kraͤm-
pfigte Zufaͤlle laͤhmten ihr ſtehendes Fußes
die Hand. — Es war ruͤhrend anzuſehn.
Die Preußen wolten ihr keinen Schilling ge-
ben, weil ſie ein altes Weib war, und der
Kraͤmpfe wegen das Heck nicht oͤfnen konn-
te; ich entſchaͤdigte ſie zwar, allein ich mußte
die Entſchaͤdigung auf Gottes Acker, auf die

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[166/0174] ben wolte, muͤßte man Mitau beſchreiben. Ich fiel auf den Gedanken, indem ich dies niederſchrieb, ob nicht jede Reſidenz das Land im verjuͤngten Maasſtabe ſey, allein ich habe mich geirrt; es giebt ſo viel Ausnahmen, ſo viel ungerathene Soͤhne bey dieſer Regel, daß die Regel ſelbſt den Mutternamen Regel nicht verdient. — Unter dem Alltaͤglichen, was auf der Reiſe vorkommt, fielen mir die armen Menſchen auf, die an Hecken ſitzen, und ſie den Reiſenden oͤfnen. In Wahr- heit, dacht’ ich, das koͤnnen nicht alles Leute von niedriger Geburt ſeyn. Ich ſah’ einen alten Mann in einem dergleichen Diogenes- haͤuschen am Heck, der einen ſo vortrefli- chen Kopf hatte. — Das war wenigſtens ein Litteratus! und wo anders ſah ich ein armes krankes Weib, die in der groͤßten Be- hendigkeit aus ihrer Behauſung kam, und Hand ans Werk legen wolte; allein kraͤm- pfigte Zufaͤlle laͤhmten ihr ſtehendes Fußes die Hand. — Es war ruͤhrend anzuſehn. Die Preußen wolten ihr keinen Schilling ge- ben, weil ſie ein altes Weib war, und der Kraͤmpfe wegen das Heck nicht oͤfnen konn- te; ich entſchaͤdigte ſie zwar, allein ich mußte die Entſchaͤdigung auf Gottes Acker, auf die Erde,

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Zitationshilfe: Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe02_1779/174>, abgerufen am 26.11.2024.