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Hilbert, David: Mathematische Probleme. Vortrag, gehalten auf dem internationalen Mathematiker-Kongreß zu Paris 1900. Göttingen, 1900.

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D. Hilbert,
Punkten ist. Der wesentliche Inhalt dieser Aussage reduzirt sich
auf den Satz von Euklid, daß im Dreiecke die Summe zweier
Seiten stets größer als die dritte Seite ist, einen Satz, welcher wie
man sieht, lediglich von elementaren d. h. aus den Axiomen un-
mittelbar entnommenen Begriffen handelt, und daher der logischen
Untersuchung zugänglicher ist. Euklid hat den genannten Satz
vom Dreieck mit Hülfe des Satzes vom Außenwinkel auf Grund
der Congruenzsätze bewiesen. Man überzeugt sich nun leicht, daß
der Beweis jenes Euklidischen Satzes allein auf Grund der-
jenigen Congruenzsätze, die sich auf das Abtragen von Strecken
und Winkeln beziehen, nicht gelingt, sondern daß man zum Be-
weise eines Dreieckscongruenzsatzes bedarf. So entsteht die
Frage nach einer Geometrie, in welcher alle Axiome der gewöhn-
lichen Euklidischen Geometrie und insbesondere alle Con-
gruenzaxiome mit Ausnahme des einen Axioms von der Dreiecks-
congruenz (oder auch mit Ausnahme des Satzes von der Gleich-
heit der Basiswinkel im gleichschenkligen Dreieck) gelten und in
welcher überdies noch der Satz, daß in jedem Dreieck die Summe
zweier Seiten größer als die dritte ist, als besonderes Axiom auf-
gestellt wird.

Man findet, daß eine solche Geometrie thatsächlich existirt
und keine andere ist als diejenige, welche Minkowski 1) in sei-
nem Buche "Geometrie der Zahlen" aufgestellt und zur Grund-
lage seiner arithmetischen Untersuchungen gemacht hat. Die
Minkowskische Geometrie ist also ebenfalls eine der gewöhn-
lichen Euklidischen Geometrie nächststehende; sie ist im
Wesentlichen durch folgende Festsetzungen charakterisirt: Er-
stens: Die Punkte, die von einem festen Punkt O gleichen Ab-
stand haben, werden durch eine convexe geschlossene Fläche des
gewöhnlichen Euklidischen Raumes mit O als Mittelpunkt re-
präsentirt. Zweitens: Zwei Strecken heißen auch dann einander
gleich, wenn man sie durch Parallelverschiebung des Euklidi-
schen
Raumes ineinander überführen kann.

In der Minkowskischen Geometrie gilt das Parallelenaxiom;
ich gelangte bei einer Betrachtung 2), die ich über den Satz von
der geraden Linie als kürzester Verbindung zweier Punkte an-
stellte, zu einer Geometrie, in welcher nicht das Parallelenaxiom
gilt, während alle übrigen Axiome der Minkowskischen Geo-
metrie erfüllt sind. Wegen der wichtigen Rolle, die der Satz

1) Leipzig 1896.
2) Mathematische Annalen, Bd. 46, S. 91.

D. Hilbert,
Punkten ist. Der wesentliche Inhalt dieser Aussage reduzirt sich
auf den Satz von Euklid, daß im Dreiecke die Summe zweier
Seiten stets größer als die dritte Seite ist, einen Satz, welcher wie
man sieht, lediglich von elementaren d. h. aus den Axiomen un-
mittelbar entnommenen Begriffen handelt, und daher der logischen
Untersuchung zugänglicher ist. Euklid hat den genannten Satz
vom Dreieck mit Hülfe des Satzes vom Außenwinkel auf Grund
der Congruenzsätze bewiesen. Man überzeugt sich nun leicht, daß
der Beweis jenes Euklidischen Satzes allein auf Grund der-
jenigen Congruenzsätze, die sich auf das Abtragen von Strecken
und Winkeln beziehen, nicht gelingt, sondern daß man zum Be-
weise eines Dreieckscongruenzsatzes bedarf. So entsteht die
Frage nach einer Geometrie, in welcher alle Axiome der gewöhn-
lichen Euklidischen Geometrie und insbesondere alle Con-
gruenzaxiome mit Ausnahme des einen Axioms von der Dreiecks-
congruenz (oder auch mit Ausnahme des Satzes von der Gleich-
heit der Basiswinkel im gleichschenkligen Dreieck) gelten und in
welcher überdies noch der Satz, daß in jedem Dreieck die Summe
zweier Seiten größer als die dritte ist, als besonderes Axiom auf-
gestellt wird.

Man findet, daß eine solche Geometrie thatsächlich existirt
und keine andere ist als diejenige, welche Minkowski 1) in sei-
nem Buche „Geometrie der Zahlen“ aufgestellt und zur Grund-
lage seiner arithmetischen Untersuchungen gemacht hat. Die
Minkowskische Geometrie ist also ebenfalls eine der gewöhn-
lichen Euklidischen Geometrie nächststehende; sie ist im
Wesentlichen durch folgende Festsetzungen charakterisirt: Er-
stens: Die Punkte, die von einem festen Punkt O gleichen Ab-
stand haben, werden durch eine convexe geschlossene Fläche des
gewöhnlichen Euklidischen Raumes mit O als Mittelpunkt re-
präsentirt. Zweitens: Zwei Strecken heißen auch dann einander
gleich, wenn man sie durch Parallelverschiebung des Euklidi-
schen
Raumes ineinander überführen kann.

In der Minkowskischen Geometrie gilt das Parallelenaxiom;
ich gelangte bei einer Betrachtung 2), die ich über den Satz von
der geraden Linie als kürzester Verbindung zweier Punkte an-
stellte, zu einer Geometrie, in welcher nicht das Parallelenaxiom
gilt, während alle übrigen Axiome der Minkowskischen Geo-
metrie erfüllt sind. Wegen der wichtigen Rolle, die der Satz

1) Leipzig 1896.
2) Mathematische Annalen, Bd. 46, S. 91.
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[268/0024] D. Hilbert, Punkten ist. Der wesentliche Inhalt dieser Aussage reduzirt sich auf den Satz von Euklid, daß im Dreiecke die Summe zweier Seiten stets größer als die dritte Seite ist, einen Satz, welcher wie man sieht, lediglich von elementaren d. h. aus den Axiomen un- mittelbar entnommenen Begriffen handelt, und daher der logischen Untersuchung zugänglicher ist. Euklid hat den genannten Satz vom Dreieck mit Hülfe des Satzes vom Außenwinkel auf Grund der Congruenzsätze bewiesen. Man überzeugt sich nun leicht, daß der Beweis jenes Euklidischen Satzes allein auf Grund der- jenigen Congruenzsätze, die sich auf das Abtragen von Strecken und Winkeln beziehen, nicht gelingt, sondern daß man zum Be- weise eines Dreieckscongruenzsatzes bedarf. So entsteht die Frage nach einer Geometrie, in welcher alle Axiome der gewöhn- lichen Euklidischen Geometrie und insbesondere alle Con- gruenzaxiome mit Ausnahme des einen Axioms von der Dreiecks- congruenz (oder auch mit Ausnahme des Satzes von der Gleich- heit der Basiswinkel im gleichschenkligen Dreieck) gelten und in welcher überdies noch der Satz, daß in jedem Dreieck die Summe zweier Seiten größer als die dritte ist, als besonderes Axiom auf- gestellt wird. Man findet, daß eine solche Geometrie thatsächlich existirt und keine andere ist als diejenige, welche Minkowski 1) in sei- nem Buche „Geometrie der Zahlen“ aufgestellt und zur Grund- lage seiner arithmetischen Untersuchungen gemacht hat. Die Minkowskische Geometrie ist also ebenfalls eine der gewöhn- lichen Euklidischen Geometrie nächststehende; sie ist im Wesentlichen durch folgende Festsetzungen charakterisirt: Er- stens: Die Punkte, die von einem festen Punkt O gleichen Ab- stand haben, werden durch eine convexe geschlossene Fläche des gewöhnlichen Euklidischen Raumes mit O als Mittelpunkt re- präsentirt. Zweitens: Zwei Strecken heißen auch dann einander gleich, wenn man sie durch Parallelverschiebung des Euklidi- schen Raumes ineinander überführen kann. In der Minkowskischen Geometrie gilt das Parallelenaxiom; ich gelangte bei einer Betrachtung 2), die ich über den Satz von der geraden Linie als kürzester Verbindung zweier Punkte an- stellte, zu einer Geometrie, in welcher nicht das Parallelenaxiom gilt, während alle übrigen Axiome der Minkowskischen Geo- metrie erfüllt sind. Wegen der wichtigen Rolle, die der Satz 1) Leipzig 1896. 2) Mathematische Annalen, Bd. 46, S. 91.

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Zitationshilfe: Hilbert, David: Mathematische Probleme. Vortrag, gehalten auf dem internationalen Mathematiker-Kongreß zu Paris 1900. Göttingen, 1900, S. 268. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hilbert_mathematische_1900/24>, abgerufen am 23.11.2024.