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Hilbert, David: Mathematische Probleme. Vortrag, gehalten auf dem internationalen Mathematiker-Kongreß zu Paris 1900. Göttingen, 1900.

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D. Hilbert,
Buche über das Ikosaeder die Bedeutung geschildert, die dem Pro-
blem der regulären Polyeder
in der Elementargeometrie, in der
Gruppen- und Gleichungstheorie und in der Theorie der linearen
Differentialgleichungen zukommt.

Um die Wichtigkeit bestimmter Probleme in's Licht zu setzen,
darf ich auch auf Weierstrass hinweisen, der es als eine
glückliche Fügung bezeichnete, daß er zu Beginn seiner wissen-
schaftlichen Laufbahn ein so bedeutendes Problem vorfand, wie es
das Jacobische Umkehrproblem war, an dessen Bearbeitung er
sich machen konnte.

Nachdem wir uns die allgemeine Bedeutung der Probleme
in der Mathematik vor Augen geführt haben, wenden wir uns zu
der Frage, aus welchen Quellen die Mathematik ihre Probleme
schöpft. Sicherlich stammen die ersten und ältesten Probleme in
jedem mathematischen Wissenszweige aus der Erfahrung und sind
durch die Welt der äußeren Erscheinungen angeregt worden.
Selbst die Regeln des Rechnens mit ganzen Zahlen sind auf
einer niederen Kulturstufe der Menschheit wohl in dieser Weise
entdeckt worden, wie ja auch heute noch das Kind die Anwen-
dung dieser Gesetze nach der empirischen Methode erlernt. Das
Gleiche gilt von den ersten Problemen der Geometrie: den aus
dem Alterthum überlieferten Problemen der Kubusverdoppelung,
der Quadratur des Kreises und den ältesten Problemen aus der
Theorie der Auflösung numerischer Gleichungen, aus der Curven-
lehre und der Differential- und Integralrechnung, aus der Va-
riationsrechnung, der Theorie der Fourierschen Reihen und der
Potentialtheorie -- gar nicht zu reden von der weiteren reichen
Fülle der eigentlichen Probleme aus der Mechanik, Astronomie und
Physik.

Bei der Weiterentwickelung einer mathematischen Disciplin
wird sich jedoch der menschliche Geist, ermuthigt durch das Ge-
lingen der Lösungen, seiner Selbstständigkeit bewußt; er schafft
aus sich selbst heraus oft ohne erkennbare äußere Anregung
allein durch logisches Combiniren, durch Verallgemeinern, Speciali-
siren, durch Trennen und Sammeln der Begriffe in glücklich-
ster Weise neue und fruchtbare Probleme und tritt dann selbst
als der eigentliche Frager in den Vordergrund. So entstanden
das Primzahlproblem und die übrigen Probleme der Arithmetik,
die Galoissche Gleichungstheorie, die Theorie der algebrai-
schen Invarianten, die Theorie der Abelschen und automorphen
Funktionen und so entstehen überhaupt fast alle feineren Fragen
der modernen Zahlen- und Funktionentheorie
.

D. Hilbert,
Buche über das Ikosaeder die Bedeutung geschildert, die dem Pro-
blem der regulären Polyeder
in der Elementargeometrie, in der
Gruppen- und Gleichungstheorie und in der Theorie der linearen
Differentialgleichungen zukommt.

Um die Wichtigkeit bestimmter Probleme in’s Licht zu setzen,
darf ich auch auf Weierstrass hinweisen, der es als eine
glückliche Fügung bezeichnete, daß er zu Beginn seiner wissen-
schaftlichen Laufbahn ein so bedeutendes Problem vorfand, wie es
das Jacobische Umkehrproblem war, an dessen Bearbeitung er
sich machen konnte.

Nachdem wir uns die allgemeine Bedeutung der Probleme
in der Mathematik vor Augen geführt haben, wenden wir uns zu
der Frage, aus welchen Quellen die Mathematik ihre Probleme
schöpft. Sicherlich stammen die ersten und ältesten Probleme in
jedem mathematischen Wissenszweige aus der Erfahrung und sind
durch die Welt der äußeren Erscheinungen angeregt worden.
Selbst die Regeln des Rechnens mit ganzen Zahlen sind auf
einer niederen Kulturstufe der Menschheit wohl in dieser Weise
entdeckt worden, wie ja auch heute noch das Kind die Anwen-
dung dieser Gesetze nach der empirischen Methode erlernt. Das
Gleiche gilt von den ersten Problemen der Geometrie: den aus
dem Alterthum überlieferten Problemen der Kubusverdoppelung,
der Quadratur des Kreises und den ältesten Problemen aus der
Theorie der Auflösung numerischer Gleichungen, aus der Curven-
lehre und der Differential- und Integralrechnung, aus der Va-
riationsrechnung, der Theorie der Fourierschen Reihen und der
Potentialtheorie — gar nicht zu reden von der weiteren reichen
Fülle der eigentlichen Probleme aus der Mechanik, Astronomie und
Physik.

Bei der Weiterentwickelung einer mathematischen Disciplin
wird sich jedoch der menschliche Geist, ermuthigt durch das Ge-
lingen der Lösungen, seiner Selbstständigkeit bewußt; er schafft
aus sich selbst heraus oft ohne erkennbare äußere Anregung
allein durch logisches Combiniren, durch Verallgemeinern, Speciali-
siren, durch Trennen und Sammeln der Begriffe in glücklich-
ster Weise neue und fruchtbare Probleme und tritt dann selbst
als der eigentliche Frager in den Vordergrund. So entstanden
das Primzahlproblem und die übrigen Probleme der Arithmetik,
die Galoissche Gleichungstheorie, die Theorie der algebrai-
schen Invarianten, die Theorie der Abelschen und automorphen
Funktionen und so entstehen überhaupt fast alle feineren Fragen
der modernen Zahlen- und Funktionentheorie
.

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[256/0012] D. Hilbert, Buche über das Ikosaeder die Bedeutung geschildert, die dem Pro- blem der regulären Polyeder in der Elementargeometrie, in der Gruppen- und Gleichungstheorie und in der Theorie der linearen Differentialgleichungen zukommt. Um die Wichtigkeit bestimmter Probleme in’s Licht zu setzen, darf ich auch auf Weierstrass hinweisen, der es als eine glückliche Fügung bezeichnete, daß er zu Beginn seiner wissen- schaftlichen Laufbahn ein so bedeutendes Problem vorfand, wie es das Jacobische Umkehrproblem war, an dessen Bearbeitung er sich machen konnte. Nachdem wir uns die allgemeine Bedeutung der Probleme in der Mathematik vor Augen geführt haben, wenden wir uns zu der Frage, aus welchen Quellen die Mathematik ihre Probleme schöpft. Sicherlich stammen die ersten und ältesten Probleme in jedem mathematischen Wissenszweige aus der Erfahrung und sind durch die Welt der äußeren Erscheinungen angeregt worden. Selbst die Regeln des Rechnens mit ganzen Zahlen sind auf einer niederen Kulturstufe der Menschheit wohl in dieser Weise entdeckt worden, wie ja auch heute noch das Kind die Anwen- dung dieser Gesetze nach der empirischen Methode erlernt. Das Gleiche gilt von den ersten Problemen der Geometrie: den aus dem Alterthum überlieferten Problemen der Kubusverdoppelung, der Quadratur des Kreises und den ältesten Problemen aus der Theorie der Auflösung numerischer Gleichungen, aus der Curven- lehre und der Differential- und Integralrechnung, aus der Va- riationsrechnung, der Theorie der Fourierschen Reihen und der Potentialtheorie — gar nicht zu reden von der weiteren reichen Fülle der eigentlichen Probleme aus der Mechanik, Astronomie und Physik. Bei der Weiterentwickelung einer mathematischen Disciplin wird sich jedoch der menschliche Geist, ermuthigt durch das Ge- lingen der Lösungen, seiner Selbstständigkeit bewußt; er schafft aus sich selbst heraus oft ohne erkennbare äußere Anregung allein durch logisches Combiniren, durch Verallgemeinern, Speciali- siren, durch Trennen und Sammeln der Begriffe in glücklich- ster Weise neue und fruchtbare Probleme und tritt dann selbst als der eigentliche Frager in den Vordergrund. So entstanden das Primzahlproblem und die übrigen Probleme der Arithmetik, die Galoissche Gleichungstheorie, die Theorie der algebrai- schen Invarianten, die Theorie der Abelschen und automorphen Funktionen und so entstehen überhaupt fast alle feineren Fragen der modernen Zahlen- und Funktionentheorie.

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Zitationshilfe: Hilbert, David: Mathematische Probleme. Vortrag, gehalten auf dem internationalen Mathematiker-Kongreß zu Paris 1900. Göttingen, 1900, S. 256. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hilbert_mathematische_1900/12>, abgerufen am 26.04.2024.