Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Hilbert, David: Mathematische Probleme. Vortrag, gehalten auf dem internationalen Mathematiker-Kongreß zu Paris 1900. Göttingen, 1900.

Bild:
<< vorherige Seite

mathematische Probleme.
damit sie daran wie an einem Prüfsteine die Güte ihrer Methoden
beurtheilen und ihre Kräfte messen könnten. Dem genannten
Problem von Bernoulli und ähnlichen Problemen verdankt die
Variationsrechnung ihren Ursprung.

Fermat hatte bekanntlich behauptet, daß die Diophan-
tische
Gleichung -- außer in gewissen selbstverständlichen Fällen --
[Formel 1] in ganzen Zahlen x, y, z unlösbar sei; das Problem, diese Unmög-
lichkeit nachzuweisen
, bietet ein schlagendes Beispiel dafür, wie
fördernd ein sehr specielles und scheinbar unbedeutendes Problem
auf die Wissenschaft einwirken kann. Denn durch die Fermatsche
Aufgabe angeregt, gelangte Kummer zu der Einführung der
idealen Zahlen und zur Entdeckung des Satzes von der ein-
deutigen Zerlegung der Zahlen eines Kreiskörpers in ideale Prim-
faktoren -- eines Satzes, der heute in der ihm durch Dedekind
und Kronecker erteilten Verallgemeinerung auf beliebige al-
gebraische Zahlbereiche im Mittelpunkte der modernen Zahlen-
theorie steht, und dessen Bedeutung weit über die Grenzen der
Zahlentheorie hinaus in das Gebiet der Algebra und der Funk-
tionentheorie reicht.

Um von einem ganz anderen Forschungsgebiete zu reden, so
erinnere ich an das Dreikörperproblem. Dem Umstande, daß
Poincare es unternahm, dieses schwierige Problem erneut zu
behandeln und der Lösung näher zu führen, verdanken wir die
fruchtbaren Methoden und die weittragenden Principien, die dieser
Gelehrte der himmlischen Mechanik erschlossen hat und die heute
auch der praktische Astronom anerkennt und anwendet.

Die beiden vorhingenannten Probleme, das Fermatsche Pro-
blem und das Dreikörperproblem, erscheinen uns im Vorrath der
Probleme fast wie entgegengesetzte Pole: das erstere eine freie
Erfindung des reinen Verstandes, der Region der abstrakten
Zahlentheorie angehörig; das andere uns von der Astronomie auf-
gezwungen und nothwendig zur Erkenntnis einfachster fundamen-
taler Naturphänomene.

Aber oftmals trifft es sich auch, daß das nämliche spe-
cielle Problem in die verschiedenartigsten Disciplinen mathema-
tischen Wissens eingreift. So spielt das Problem der kürze-
sten Linie
zugleich in den Grundlagen der Geometrie, in der
Theorie der krummen Linien und Flächen, in der Mechanik
und in der Variationsrechnung eine wichtige historische und prin-
cipielle Rolle. Und wie überzeugend hat F. Klein in seinem

mathematische Probleme.
damit sie daran wie an einem Prüfsteine die Güte ihrer Methoden
beurtheilen und ihre Kräfte messen könnten. Dem genannten
Problem von Bernoulli und ähnlichen Problemen verdankt die
Variationsrechnung ihren Ursprung.

Fermat hatte bekanntlich behauptet, daß die Diophan-
tische
Gleichung — außer in gewissen selbstverständlichen Fällen —
[Formel 1] in ganzen Zahlen x, y, z unlösbar sei; das Problem, diese Unmög-
lichkeit nachzuweisen
, bietet ein schlagendes Beispiel dafür, wie
fördernd ein sehr specielles und scheinbar unbedeutendes Problem
auf die Wissenschaft einwirken kann. Denn durch die Fermatsche
Aufgabe angeregt, gelangte Kummer zu der Einführung der
idealen Zahlen und zur Entdeckung des Satzes von der ein-
deutigen Zerlegung der Zahlen eines Kreiskörpers in ideale Prim-
faktoren — eines Satzes, der heute in der ihm durch Dedekind
und Kronecker erteilten Verallgemeinerung auf beliebige al-
gebraische Zahlbereiche im Mittelpunkte der modernen Zahlen-
theorie steht, und dessen Bedeutung weit über die Grenzen der
Zahlentheorie hinaus in das Gebiet der Algebra und der Funk-
tionentheorie reicht.

Um von einem ganz anderen Forschungsgebiete zu reden, so
erinnere ich an das Dreikörperproblem. Dem Umstande, daß
Poincaré es unternahm, dieses schwierige Problem erneut zu
behandeln und der Lösung näher zu führen, verdanken wir die
fruchtbaren Methoden und die weittragenden Principien, die dieser
Gelehrte der himmlischen Mechanik erschlossen hat und die heute
auch der praktische Astronom anerkennt und anwendet.

Die beiden vorhingenannten Probleme, das Fermatsche Pro-
blem und das Dreikörperproblem, erscheinen uns im Vorrath der
Probleme fast wie entgegengesetzte Pole: das erstere eine freie
Erfindung des reinen Verstandes, der Region der abstrakten
Zahlentheorie angehörig; das andere uns von der Astronomie auf-
gezwungen und nothwendig zur Erkenntnis einfachster fundamen-
taler Naturphänomene.

Aber oftmals trifft es sich auch, daß das nämliche spe-
cielle Problem in die verschiedenartigsten Disciplinen mathema-
tischen Wissens eingreift. So spielt das Problem der kürze-
sten Linie
zugleich in den Grundlagen der Geometrie, in der
Theorie der krummen Linien und Flächen, in der Mechanik
und in der Variationsrechnung eine wichtige historische und prin-
cipielle Rolle. Und wie überzeugend hat F. Klein in seinem

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0011" n="255"/><fw place="top" type="header">mathematische Probleme.</fw><lb/>
damit sie daran wie an einem Prüfsteine die Güte ihrer Methoden<lb/>
beurtheilen und ihre Kräfte messen könnten. Dem genannten<lb/>
Problem von <hi rendition="#g">Bernoulli</hi> und ähnlichen Problemen verdankt die<lb/>
Variationsrechnung ihren Ursprung.</p><lb/>
        <p><hi rendition="#g">Fermat</hi> hatte bekanntlich behauptet, daß die <hi rendition="#g">Diophan-<lb/>
tische</hi> Gleichung &#x2014; außer in gewissen selbstverständlichen Fällen &#x2014;<lb/><formula/> in ganzen Zahlen <hi rendition="#i">x, y, z</hi> unlösbar sei; <hi rendition="#i">das Problem, diese Unmög-<lb/>
lichkeit nachzuweisen</hi>, bietet ein schlagendes Beispiel dafür, wie<lb/>
fördernd ein sehr specielles und scheinbar unbedeutendes Problem<lb/>
auf die Wissenschaft einwirken kann. Denn durch die <hi rendition="#g">Fermatsche</hi><lb/>
Aufgabe angeregt, gelangte <hi rendition="#g">Kummer</hi> zu der Einführung der<lb/>
idealen Zahlen und zur Entdeckung des Satzes von der ein-<lb/>
deutigen Zerlegung der Zahlen eines Kreiskörpers in ideale Prim-<lb/>
faktoren &#x2014; eines Satzes, der heute in der ihm durch <hi rendition="#g">Dedekind</hi><lb/>
und <hi rendition="#g">Kronecker</hi> erteilten Verallgemeinerung auf beliebige al-<lb/>
gebraische Zahlbereiche im Mittelpunkte der modernen Zahlen-<lb/>
theorie steht, und dessen Bedeutung weit über die Grenzen der<lb/>
Zahlentheorie hinaus in das Gebiet der Algebra und der Funk-<lb/>
tionentheorie reicht.</p><lb/>
        <p>Um von einem ganz anderen Forschungsgebiete zu reden, so<lb/>
erinnere ich an das <hi rendition="#i">Dreikörperproblem</hi>. Dem Umstande, daß<lb/><hi rendition="#g">Poincaré</hi> es unternahm, dieses schwierige Problem erneut zu<lb/>
behandeln und der Lösung näher zu führen, verdanken wir die<lb/>
fruchtbaren Methoden und die weittragenden Principien, die dieser<lb/>
Gelehrte der himmlischen Mechanik erschlossen hat und die heute<lb/>
auch der praktische Astronom anerkennt und anwendet.</p><lb/>
        <p>Die beiden vorhingenannten Probleme, das <hi rendition="#g">Fermats</hi>che Pro-<lb/>
blem und das Dreikörperproblem, erscheinen uns im Vorrath der<lb/>
Probleme fast wie entgegengesetzte Pole: das erstere eine freie<lb/>
Erfindung des reinen Verstandes, der Region der abstrakten<lb/>
Zahlentheorie angehörig; das andere uns von der Astronomie auf-<lb/>
gezwungen und nothwendig zur Erkenntnis einfachster fundamen-<lb/>
taler Naturphänomene.</p><lb/>
        <p>Aber oftmals trifft es sich auch, daß das nämliche spe-<lb/>
cielle Problem in die verschiedenartigsten Disciplinen mathema-<lb/>
tischen Wissens eingreift. So spielt das <hi rendition="#i">Problem der kürze-<lb/>
sten Linie</hi> zugleich in den Grundlagen der Geometrie, in der<lb/>
Theorie der krummen Linien und Flächen, in der Mechanik<lb/>
und in der Variationsrechnung eine wichtige historische und prin-<lb/>
cipielle Rolle. Und wie überzeugend hat F. <hi rendition="#g">Klein</hi> in seinem<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[255/0011] mathematische Probleme. damit sie daran wie an einem Prüfsteine die Güte ihrer Methoden beurtheilen und ihre Kräfte messen könnten. Dem genannten Problem von Bernoulli und ähnlichen Problemen verdankt die Variationsrechnung ihren Ursprung. Fermat hatte bekanntlich behauptet, daß die Diophan- tische Gleichung — außer in gewissen selbstverständlichen Fällen — [FORMEL] in ganzen Zahlen x, y, z unlösbar sei; das Problem, diese Unmög- lichkeit nachzuweisen, bietet ein schlagendes Beispiel dafür, wie fördernd ein sehr specielles und scheinbar unbedeutendes Problem auf die Wissenschaft einwirken kann. Denn durch die Fermatsche Aufgabe angeregt, gelangte Kummer zu der Einführung der idealen Zahlen und zur Entdeckung des Satzes von der ein- deutigen Zerlegung der Zahlen eines Kreiskörpers in ideale Prim- faktoren — eines Satzes, der heute in der ihm durch Dedekind und Kronecker erteilten Verallgemeinerung auf beliebige al- gebraische Zahlbereiche im Mittelpunkte der modernen Zahlen- theorie steht, und dessen Bedeutung weit über die Grenzen der Zahlentheorie hinaus in das Gebiet der Algebra und der Funk- tionentheorie reicht. Um von einem ganz anderen Forschungsgebiete zu reden, so erinnere ich an das Dreikörperproblem. Dem Umstande, daß Poincaré es unternahm, dieses schwierige Problem erneut zu behandeln und der Lösung näher zu führen, verdanken wir die fruchtbaren Methoden und die weittragenden Principien, die dieser Gelehrte der himmlischen Mechanik erschlossen hat und die heute auch der praktische Astronom anerkennt und anwendet. Die beiden vorhingenannten Probleme, das Fermatsche Pro- blem und das Dreikörperproblem, erscheinen uns im Vorrath der Probleme fast wie entgegengesetzte Pole: das erstere eine freie Erfindung des reinen Verstandes, der Region der abstrakten Zahlentheorie angehörig; das andere uns von der Astronomie auf- gezwungen und nothwendig zur Erkenntnis einfachster fundamen- taler Naturphänomene. Aber oftmals trifft es sich auch, daß das nämliche spe- cielle Problem in die verschiedenartigsten Disciplinen mathema- tischen Wissens eingreift. So spielt das Problem der kürze- sten Linie zugleich in den Grundlagen der Geometrie, in der Theorie der krummen Linien und Flächen, in der Mechanik und in der Variationsrechnung eine wichtige historische und prin- cipielle Rolle. Und wie überzeugend hat F. Klein in seinem

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/hilbert_mathematische_1900
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/hilbert_mathematische_1900/11
Zitationshilfe: Hilbert, David: Mathematische Probleme. Vortrag, gehalten auf dem internationalen Mathematiker-Kongreß zu Paris 1900. Göttingen, 1900, S. 255. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hilbert_mathematische_1900/11>, abgerufen am 24.11.2024.