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Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Sie war auch eine Hirzerin, und der Bruder wußte es wohl. Und darum brauchte er den Schlaftrunk, denn trotz seiner drohenden Sicherheit ahnte ihm nichts Gutes. So hatte ihn die Anna nur einmal im Leben angeblickt: als er ihr zum ersten Mal nach jenem nächtlichen Kampf wieder unter die Augen zu treten wagte.

Der Schlaftrunk aber that seine Schuldigkeit. Als unten in Meran die Glocken zur Frühmesse geläutet wurden, lag der Herr von Schloß Goyen noch im tiefen Schlaf und überhörte es auch, daß der alte Hofhund freudig aufbellte und mit der Kette rasselte. Auch der Franz konnte es nicht hören, er hatte die Nacht in Meran zugebracht. So stiegen die beiden weiblichen Gestalten in ihren dunklen Sonntagsgewändern unbemerkt die Holzstufen an der Mauer hinab und traten ihren Weg durch die neblige Winterfrühe schweigend und eilfertig an.

Sie hatten Beide die Nacht durchwacht und den Morgen herbeigesehnt. Denn die Alte hatte der Jungen Alles erzählt, was diese bisher nur dunkel ahnte und aus einzelnen aufgefangenen Worten des Vaters, wenn er im Rausch war, sich zusammen reimen konnte. Das geheimste Fach ihres großen Wandschrankes war aufgeschlossen worden, und alte Briefe, ein kleines Bildniß des Todten und die verblichenen Geschenke, die sie von ihm bewahrte, kamen zum ersten Mal vor andere Augen, als die beiden, die nicht müde

Sie war auch eine Hirzerin, und der Bruder wußte es wohl. Und darum brauchte er den Schlaftrunk, denn trotz seiner drohenden Sicherheit ahnte ihm nichts Gutes. So hatte ihn die Anna nur einmal im Leben angeblickt: als er ihr zum ersten Mal nach jenem nächtlichen Kampf wieder unter die Augen zu treten wagte.

Der Schlaftrunk aber that seine Schuldigkeit. Als unten in Meran die Glocken zur Frühmesse geläutet wurden, lag der Herr von Schloß Goyen noch im tiefen Schlaf und überhörte es auch, daß der alte Hofhund freudig aufbellte und mit der Kette rasselte. Auch der Franz konnte es nicht hören, er hatte die Nacht in Meran zugebracht. So stiegen die beiden weiblichen Gestalten in ihren dunklen Sonntagsgewändern unbemerkt die Holzstufen an der Mauer hinab und traten ihren Weg durch die neblige Winterfrühe schweigend und eilfertig an.

Sie hatten Beide die Nacht durchwacht und den Morgen herbeigesehnt. Denn die Alte hatte der Jungen Alles erzählt, was diese bisher nur dunkel ahnte und aus einzelnen aufgefangenen Worten des Vaters, wenn er im Rausch war, sich zusammen reimen konnte. Das geheimste Fach ihres großen Wandschrankes war aufgeschlossen worden, und alte Briefe, ein kleines Bildniß des Todten und die verblichenen Geschenke, die sie von ihm bewahrte, kamen zum ersten Mal vor andere Augen, als die beiden, die nicht müde

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[0139] Sie war auch eine Hirzerin, und der Bruder wußte es wohl. Und darum brauchte er den Schlaftrunk, denn trotz seiner drohenden Sicherheit ahnte ihm nichts Gutes. So hatte ihn die Anna nur einmal im Leben angeblickt: als er ihr zum ersten Mal nach jenem nächtlichen Kampf wieder unter die Augen zu treten wagte. Der Schlaftrunk aber that seine Schuldigkeit. Als unten in Meran die Glocken zur Frühmesse geläutet wurden, lag der Herr von Schloß Goyen noch im tiefen Schlaf und überhörte es auch, daß der alte Hofhund freudig aufbellte und mit der Kette rasselte. Auch der Franz konnte es nicht hören, er hatte die Nacht in Meran zugebracht. So stiegen die beiden weiblichen Gestalten in ihren dunklen Sonntagsgewändern unbemerkt die Holzstufen an der Mauer hinab und traten ihren Weg durch die neblige Winterfrühe schweigend und eilfertig an. Sie hatten Beide die Nacht durchwacht und den Morgen herbeigesehnt. Denn die Alte hatte der Jungen Alles erzählt, was diese bisher nur dunkel ahnte und aus einzelnen aufgefangenen Worten des Vaters, wenn er im Rausch war, sich zusammen reimen konnte. Das geheimste Fach ihres großen Wandschrankes war aufgeschlossen worden, und alte Briefe, ein kleines Bildniß des Todten und die verblichenen Geschenke, die sie von ihm bewahrte, kamen zum ersten Mal vor andere Augen, als die beiden, die nicht müde

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T11:27:07Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T11:27:07Z)

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Zitationshilfe: Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_weinhueter_1910/139>, abgerufen am 22.11.2024.