pflücken kann ich dir keine Blume, ich zersteche mir die Hände."
"Ich will es für dich thun," sagte er und brach ihr eine von den Monatsrosen. Sie nahm sie. "Du hast so viele Knospen mitgepflückt," sagte sie; "ich will mir eine behalten und in Wasser stellen. Da hast du die blühende wieder."
So gingen sie den saubern Gang hinab, bis die Mutter sie zu Tische rief. Clemens war beklommen, dem Vater gegenüber. Aber Marlene, so bescheiden sie sonst an der Unterhaltung Theil nahm, hatte heut hundert Dinge zu erzählen und zu fragen. Auch der Alte verlor darüber das Nachgefühl des ersten Ge¬ sprächs mit seinem Sohn, und das alte trauliche Verhältniß stellte sich bald wieder her.
Es konnte aber nicht fehlen, daß in den nächsten Tagen die Gelegenheit zum Streit sich erneuerte. Der Vater erkundigte sich nach dem Zustande der Theo¬ logie an jener Universität, und das Gespräch sprang bald zu allgemeineren Fragen über. Je mehr Cle¬ mens auswich, desto eifriger drängte ihn der Alte. Manch besorgter, zuweilen unwilliger Blick der Mut¬ ter hielt ihn freilich in seinem Vorsatz, offene Be¬ kenntnisse zu vermeiden. Aber wenn er dann ab¬ brach oder ein Wort sagte, das für ihn leer war, drückte ihm die peinliche Stille das Herz ab. Mar¬ lene wußte immer wieder den alten Ton anzuschla¬
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pflücken kann ich dir keine Blume, ich zerſteche mir die Hände.“
„Ich will es für dich thun,“ ſagte er und brach ihr eine von den Monatsroſen. Sie nahm ſie. „Du haſt ſo viele Knoſpen mitgepflückt,“ ſagte ſie; „ich will mir eine behalten und in Waſſer ſtellen. Da haſt du die blühende wieder.“
So gingen ſie den ſaubern Gang hinab, bis die Mutter ſie zu Tiſche rief. Clemens war beklommen, dem Vater gegenüber. Aber Marlene, ſo beſcheiden ſie ſonſt an der Unterhaltung Theil nahm, hatte heut hundert Dinge zu erzählen und zu fragen. Auch der Alte verlor darüber das Nachgefühl des erſten Ge¬ ſprächs mit ſeinem Sohn, und das alte trauliche Verhältniß ſtellte ſich bald wieder her.
Es konnte aber nicht fehlen, daß in den nächſten Tagen die Gelegenheit zum Streit ſich erneuerte. Der Vater erkundigte ſich nach dem Zuſtande der Theo¬ logie an jener Univerſität, und das Geſpräch ſprang bald zu allgemeineren Fragen über. Je mehr Cle¬ mens auswich, deſto eifriger drängte ihn der Alte. Manch beſorgter, zuweilen unwilliger Blick der Mut¬ ter hielt ihn freilich in ſeinem Vorſatz, offene Be¬ kenntniſſe zu vermeiden. Aber wenn er dann ab¬ brach oder ein Wort ſagte, das für ihn leer war, drückte ihm die peinliche Stille das Herz ab. Mar¬ lene wußte immer wieder den alten Ton anzuſchla¬
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pflücken kann ich dir keine Blume, ich zerſteche mir
die Hände.“
„Ich will es für dich thun,“ ſagte er und brach ihr
eine von den Monatsroſen. Sie nahm ſie. „Du haſt
ſo viele Knoſpen mitgepflückt,“ ſagte ſie; „ich will mir
eine behalten und in Waſſer ſtellen. Da haſt du die
blühende wieder.“
So gingen ſie den ſaubern Gang hinab, bis die
Mutter ſie zu Tiſche rief. Clemens war beklommen,
dem Vater gegenüber. Aber Marlene, ſo beſcheiden
ſie ſonſt an der Unterhaltung Theil nahm, hatte heut
hundert Dinge zu erzählen und zu fragen. Auch der
Alte verlor darüber das Nachgefühl des erſten Ge¬
ſprächs mit ſeinem Sohn, und das alte trauliche
Verhältniß ſtellte ſich bald wieder her.
Es konnte aber nicht fehlen, daß in den nächſten
Tagen die Gelegenheit zum Streit ſich erneuerte. Der
Vater erkundigte ſich nach dem Zuſtande der Theo¬
logie an jener Univerſität, und das Geſpräch ſprang
bald zu allgemeineren Fragen über. Je mehr Cle¬
mens auswich, deſto eifriger drängte ihn der Alte.
Manch beſorgter, zuweilen unwilliger Blick der Mut¬
ter hielt ihn freilich in ſeinem Vorſatz, offene Be¬
kenntniſſe zu vermeiden. Aber wenn er dann ab¬
brach oder ein Wort ſagte, das für ihn leer war,
drückte ihm die peinliche Stille das Herz ab. Mar¬
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Heyse, Paul: Novellen. Berlin, 1855, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_novellen_1855/63>, abgerufen am 25.07.2024.
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