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Heyse, Paul: Novellen. Berlin, 1855.

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heit mir die Augen über, verdunkelten sich ganz, und
er schwand leise dahin und ließ mich in Thränen."

Der Alte war wieder ans Fenster getreten, und
Clemens sah, wie ein Zittern ihn überlief. "Vater!"
rief er und faßte die matt herabhängende Hand. Sie
war feucht und kalt. "Vater! du ängstest mich. Du
solltest zum Arzt schicken."

"Zum Arzt?" sagte der Vater fast heftig und rich¬
tete sich in allen Gliedern auf. "Ich bin gesund, das
ist es eben. Es will und ahnt meine Seele den Tod,
und mein Leib widersteht ihm eigensinnig."

"Diese Träume, Vater, zerrütten dich!"

"Träume? Ich sage dir, daß ich wachte wie jetzt."

"Ich zweifle nicht, Vater, daß du wachtest. Aber
um so mehr beunruhigen mich diese Fieberschauer,
die dich wachend mit Träumen heimsuchen. Sieh,
noch jetzt bist du durch die Erinnerung wie außer
dir und dein Puls fliegt. Ich weiß, so wenig Arzt
ich bin, daß du Fieber hattest die Nacht und jetzt." --

"Dünkst du dir das zu wissen, armer Mensch?" rief
der Alte. "O der herrlichen Weisheit! O der gna¬
denreichen Wissenschaft! Aber wen klage ich an?
Bin ich nicht der Strafe werth, da ich Gottes Ge¬
heimnisse ausplaudre und mein volles Herz den Spöt¬
tern zur Scheibe mache? Ist das die Frucht deines
Lernens und wähnst du Feigen zu essen von diesem
Dornbusch? Aber ich kenne euch wohl, ihr Armse¬

heit mir die Augen über, verdunkelten ſich ganz, und
er ſchwand leiſe dahin und ließ mich in Thränen.“

Der Alte war wieder ans Fenſter getreten, und
Clemens ſah, wie ein Zittern ihn überlief. „Vater!“
rief er und faßte die matt herabhängende Hand. Sie
war feucht und kalt. „Vater! du ängſteſt mich. Du
ſollteſt zum Arzt ſchicken.“

„Zum Arzt?“ ſagte der Vater faſt heftig und rich¬
tete ſich in allen Gliedern auf. „Ich bin geſund, das
iſt es eben. Es will und ahnt meine Seele den Tod,
und mein Leib widerſteht ihm eigenſinnig.“

„Dieſe Träume, Vater, zerrütten dich!“

„Träume? Ich ſage dir, daß ich wachte wie jetzt.“

„Ich zweifle nicht, Vater, daß du wachteſt. Aber
um ſo mehr beunruhigen mich dieſe Fieberſchauer,
die dich wachend mit Träumen heimſuchen. Sieh,
noch jetzt biſt du durch die Erinnerung wie außer
dir und dein Puls fliegt. Ich weiß, ſo wenig Arzt
ich bin, daß du Fieber hatteſt die Nacht und jetzt.“ —

„Dünkſt du dir das zu wiſſen, armer Menſch?“ rief
der Alte. „O der herrlichen Weisheit! O der gna¬
denreichen Wiſſenſchaft! Aber wen klage ich an?
Bin ich nicht der Strafe werth, da ich Gottes Ge¬
heimniſſe ausplaudre und mein volles Herz den Spöt¬
tern zur Scheibe mache? Iſt das die Frucht deines
Lernens und wähnſt du Feigen zu eſſen von dieſem
Dornbuſch? Aber ich kenne euch wohl, ihr Armſe¬

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[46/0058] heit mir die Augen über, verdunkelten ſich ganz, und er ſchwand leiſe dahin und ließ mich in Thränen.“ Der Alte war wieder ans Fenſter getreten, und Clemens ſah, wie ein Zittern ihn überlief. „Vater!“ rief er und faßte die matt herabhängende Hand. Sie war feucht und kalt. „Vater! du ängſteſt mich. Du ſollteſt zum Arzt ſchicken.“ „Zum Arzt?“ ſagte der Vater faſt heftig und rich¬ tete ſich in allen Gliedern auf. „Ich bin geſund, das iſt es eben. Es will und ahnt meine Seele den Tod, und mein Leib widerſteht ihm eigenſinnig.“ „Dieſe Träume, Vater, zerrütten dich!“ „Träume? Ich ſage dir, daß ich wachte wie jetzt.“ „Ich zweifle nicht, Vater, daß du wachteſt. Aber um ſo mehr beunruhigen mich dieſe Fieberſchauer, die dich wachend mit Träumen heimſuchen. Sieh, noch jetzt biſt du durch die Erinnerung wie außer dir und dein Puls fliegt. Ich weiß, ſo wenig Arzt ich bin, daß du Fieber hatteſt die Nacht und jetzt.“ — „Dünkſt du dir das zu wiſſen, armer Menſch?“ rief der Alte. „O der herrlichen Weisheit! O der gna¬ denreichen Wiſſenſchaft! Aber wen klage ich an? Bin ich nicht der Strafe werth, da ich Gottes Ge¬ heimniſſe ausplaudre und mein volles Herz den Spöt¬ tern zur Scheibe mache? Iſt das die Frucht deines Lernens und wähnſt du Feigen zu eſſen von dieſem Dornbuſch? Aber ich kenne euch wohl, ihr Armſe¬

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Zitationshilfe: Heyse, Paul: Novellen. Berlin, 1855, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_novellen_1855/58>, abgerufen am 01.05.2024.