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Heyse, Paul: Novellen. Berlin, 1855.

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Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Ueber
dem Vesuv lagerte eine breite graue Nebelschicht, die
sich nach Neapel hinüberdehnte und die kleinen Städte
an jenem Küstenstrich verdunkelte. Das Meer lag still.
An der Marine aber, die unter dem hohen Sorren¬
tiner Felsenufer in einer engen Bucht angelegt ist,
rührten sich schon Fischer mit ihren Weibern, die Kähne
mit Netzen, die zum Fischen über Nacht draußen ge¬
legen hatten, an großen Tauen ans Land zu ziehen.
Andere rüsteten ihre Barken, richteten die Segel zu
und schleppten Ruder und Segelstangen aus den gro¬
ßen vergitterten Gewölben vor, die tief in den Felsen
hineingebaut über Nacht das Schiffsgeräth bewahren.
Man sah keinen müßig gehen; denn auch die Alten,
die keine Fahrt mehr machen, reihten sich in die große
Kette derer ein, die an den Netzen zogen, und hie und
da stand ein Mütterchen mit der Spindel auf einem
der flachen Dächer, oder machte sich mit den Enkeln
zu schaffen, während die Tochter dem Manne half.

Siehst du, Rachela? da ist unser Padre Curato,
sagte eine Alte zu einem kleinen Ding von zehn Jah¬

Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Ueber
dem Veſuv lagerte eine breite graue Nebelſchicht, die
ſich nach Neapel hinüberdehnte und die kleinen Städte
an jenem Küſtenſtrich verdunkelte. Das Meer lag ſtill.
An der Marine aber, die unter dem hohen Sorren¬
tiner Felſenufer in einer engen Bucht angelegt iſt,
rührten ſich ſchon Fiſcher mit ihren Weibern, die Kähne
mit Netzen, die zum Fiſchen über Nacht draußen ge¬
legen hatten, an großen Tauen ans Land zu ziehen.
Andere rüſteten ihre Barken, richteten die Segel zu
und ſchleppten Ruder und Segelſtangen aus den gro¬
ßen vergitterten Gewölben vor, die tief in den Felſen
hineingebaut über Nacht das Schiffsgeräth bewahren.
Man ſah keinen müßig gehen; denn auch die Alten,
die keine Fahrt mehr machen, reihten ſich in die große
Kette derer ein, die an den Netzen zogen, und hie und
da ſtand ein Mütterchen mit der Spindel auf einem
der flachen Dächer, oder machte ſich mit den Enkeln
zu ſchaffen, während die Tochter dem Manne half.

Siehſt du, Rachela? da iſt unſer Padre Curato,
ſagte eine Alte zu einem kleinen Ding von zehn Jah¬

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[91/0103] Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Ueber dem Veſuv lagerte eine breite graue Nebelſchicht, die ſich nach Neapel hinüberdehnte und die kleinen Städte an jenem Küſtenſtrich verdunkelte. Das Meer lag ſtill. An der Marine aber, die unter dem hohen Sorren¬ tiner Felſenufer in einer engen Bucht angelegt iſt, rührten ſich ſchon Fiſcher mit ihren Weibern, die Kähne mit Netzen, die zum Fiſchen über Nacht draußen ge¬ legen hatten, an großen Tauen ans Land zu ziehen. Andere rüſteten ihre Barken, richteten die Segel zu und ſchleppten Ruder und Segelſtangen aus den gro¬ ßen vergitterten Gewölben vor, die tief in den Felſen hineingebaut über Nacht das Schiffsgeräth bewahren. Man ſah keinen müßig gehen; denn auch die Alten, die keine Fahrt mehr machen, reihten ſich in die große Kette derer ein, die an den Netzen zogen, und hie und da ſtand ein Mütterchen mit der Spindel auf einem der flachen Dächer, oder machte ſich mit den Enkeln zu ſchaffen, während die Tochter dem Manne half. Siehſt du, Rachela? da iſt unſer Padre Curato, ſagte eine Alte zu einem kleinen Ding von zehn Jah¬

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Zitationshilfe: Heyse, Paul: Novellen. Berlin, 1855, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_novellen_1855/103>, abgerufen am 30.04.2024.