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[Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778.

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Das Griechische Profil ist so berühmt, daß
ich mich scheue, davon zu reden. Jeder Cou-
noisseur weiß, daß es der gerade Schnitt von
Stirn zu Nase sei, der, weil er Griechisch ist,
wohl sehr schön seyn müsse. Wenn er ihn nach-
her an lebenden Personen sieht und da nicht so
schön findet, so schreibt er etwa, wie jener
Schneider in den Kalender, es sich in seinen
Volkmann oder Richardson an: "schön; aber
"nur an Griechischen Statuen, weil sie Stein
"sind"; und damit hat seine Kennerschaft ein
Ende. Nothwendig muß in der lebenden Na-
tur
eine Ursache der Schönheit liegen oder sie ist
auch nicht in der todten; und wer verkennete sie
dort? Wer fühlt nicht, daß eine Nase mit ihrer
Wurzel tief unter die Stirn gebogen, gleichsam
einen dürftigen Anfang habe, und daß der Lebens-
othem, der zur Seele kommen soll, sich da wie
durch Höle und Abtritt winde? Wer fühlt nicht
Gegentheils die unzerstückte Form, und daß so
fort unter der Stirn das ganze übrige Gesicht
Erhabenheit, Runde, großen Blick und vestere
Cälatur erhalte, wenn dieser Bug der Nase kein
Grabensprung ist? endlich und ohn' alle diese
Künstelei, wer hat noch nie das Thronmäßige
einer Junonischen Nase, oder das unendlich
Freie, Vor sich sehende, Hinduftende einer
Nase des Apollo gemerket? Wie vielleicht nur

Ein

Das Griechiſche Profil iſt ſo beruͤhmt, daß
ich mich ſcheue, davon zu reden. Jeder Cou-
noiſſeur weiß, daß es der gerade Schnitt von
Stirn zu Naſe ſei, der, weil er Griechiſch iſt,
wohl ſehr ſchoͤn ſeyn muͤſſe. Wenn er ihn nach-
her an lebenden Perſonen ſieht und da nicht ſo
ſchoͤn findet, ſo ſchreibt er etwa, wie jener
Schneider in den Kalender, es ſich in ſeinen
Volkmann oder Richardſon an: „ſchoͤn; aber
„nur an Griechiſchen Statuen, weil ſie Stein
„ſind„; und damit hat ſeine Kennerſchaft ein
Ende. Nothwendig muß in der lebenden Na-
tur
eine Urſache der Schoͤnheit liegen oder ſie iſt
auch nicht in der todten; und wer verkennete ſie
dort? Wer fuͤhlt nicht, daß eine Naſe mit ihrer
Wurzel tief unter die Stirn gebogen, gleichſam
einen duͤrftigen Anfang habe, und daß der Lebens-
othem, der zur Seele kommen ſoll, ſich da wie
durch Hoͤle und Abtritt winde? Wer fuͤhlt nicht
Gegentheils die unzerſtuͤckte Form, und daß ſo
fort unter der Stirn das ganze uͤbrige Geſicht
Erhabenheit, Runde, großen Blick und veſtere
Caͤlatur erhalte, wenn dieſer Bug der Naſe kein
Grabenſprung iſt? endlich und ohn’ alle dieſe
Kuͤnſtelei, wer hat noch nie das Thronmaͤßige
einer Junoniſchen Naſe, oder das unendlich
Freie, Vor ſich ſehende, Hinduftende einer
Naſe des Apollo gemerket? Wie vielleicht nur

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[78/0081] Das Griechiſche Profil iſt ſo beruͤhmt, daß ich mich ſcheue, davon zu reden. Jeder Cou- noiſſeur weiß, daß es der gerade Schnitt von Stirn zu Naſe ſei, der, weil er Griechiſch iſt, wohl ſehr ſchoͤn ſeyn muͤſſe. Wenn er ihn nach- her an lebenden Perſonen ſieht und da nicht ſo ſchoͤn findet, ſo ſchreibt er etwa, wie jener Schneider in den Kalender, es ſich in ſeinen Volkmann oder Richardſon an: „ſchoͤn; aber „nur an Griechiſchen Statuen, weil ſie Stein „ſind„; und damit hat ſeine Kennerſchaft ein Ende. Nothwendig muß in der lebenden Na- tur eine Urſache der Schoͤnheit liegen oder ſie iſt auch nicht in der todten; und wer verkennete ſie dort? Wer fuͤhlt nicht, daß eine Naſe mit ihrer Wurzel tief unter die Stirn gebogen, gleichſam einen duͤrftigen Anfang habe, und daß der Lebens- othem, der zur Seele kommen ſoll, ſich da wie durch Hoͤle und Abtritt winde? Wer fuͤhlt nicht Gegentheils die unzerſtuͤckte Form, und daß ſo fort unter der Stirn das ganze uͤbrige Geſicht Erhabenheit, Runde, großen Blick und veſtere Caͤlatur erhalte, wenn dieſer Bug der Naſe kein Grabenſprung iſt? endlich und ohn’ alle dieſe Kuͤnſtelei, wer hat noch nie das Thronmaͤßige einer Junoniſchen Naſe, oder das unendlich Freie, Vor ſich ſehende, Hinduftende einer Naſe des Apollo gemerket? Wie vielleicht nur Ein

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Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/81>, abgerufen am 21.11.2024.