Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778.

Bild:
<< vorherige Seite

welch ein Finger von Fleisch und Blut diesen Ab-
grund inwendig gährender oder stiller Kräfte er-
tappen an der äußern Rinde! Die Gottheit selbst
hat diese heilige Höhe, den Olympus oder Libanon
unsers Gewächses, als den Aufenthalt und die
Werkstäte ihrer geheimsten Würkung mit einem
Hainen) bedeckt, mit dem sie sonst auch alle ihre
Geheimnisse deckte. Man schauert, wenn man
sich das Rund umfaßt denket, in dem eine Schö-
pfung wohnet, in dem Ein Blitz, der da aus dem
Chaos leuchtet, eine Welt schmücken und erleuch-
ten, oder eine Welt zerschmettern und verwüsten
kann. Die Nordischen Völker nannten den Him-
mel Ymers Haupt und träumten ihn aus seinem
Schädel entstanden; es ist wohl auch niemand,
der, wenn die große und kleine Welt übereinstim-
men und der kleine Mensch Begrif und Auszug
der großen Schöpfung seyn soll, die Aehnlichkeit
dieses Gipfels, der Krone unsers Daseyns, an-
derswo suchen werde, als dort, wo das unermäß-
liche Blau über Dunst und Wolken ein Abgrund
wird, den nur Seine Hand umspannet und
Sein Geist durchreget. Mich dünkt, hier ist
Alles Tiefe und Geheimniß und ob es gleich
scheint, daß bei anstrengender Arbeit wir die
Kräfte der Sinne und Lebensgeister näher ihren
Pforten und ihrer Tafel, dem Auge und der

Stirn;
n) Das Haar.

welch ein Finger von Fleiſch und Blut dieſen Ab-
grund inwendig gaͤhrender oder ſtiller Kraͤfte er-
tappen an der aͤußern Rinde! Die Gottheit ſelbſt
hat dieſe heilige Hoͤhe, den Olympus oder Libanon
unſers Gewaͤchſes, als den Aufenthalt und die
Werkſtaͤte ihrer geheimſten Wuͤrkung mit einem
Hainen) bedeckt, mit dem ſie ſonſt auch alle ihre
Geheimniſſe deckte. Man ſchauert, wenn man
ſich das Rund umfaßt denket, in dem eine Schoͤ-
pfung wohnet, in dem Ein Blitz, der da aus dem
Chaos leuchtet, eine Welt ſchmuͤcken und erleuch-
ten, oder eine Welt zerſchmettern und verwuͤſten
kann. Die Nordiſchen Voͤlker nannten den Him-
mel Ymers Haupt und traͤumten ihn aus ſeinem
Schaͤdel entſtanden; es iſt wohl auch niemand,
der, wenn die große und kleine Welt uͤbereinſtim-
men und der kleine Menſch Begrif und Auszug
der großen Schoͤpfung ſeyn ſoll, die Aehnlichkeit
dieſes Gipfels, der Krone unſers Daſeyns, an-
derswo ſuchen werde, als dort, wo das unermaͤß-
liche Blau uͤber Dunſt und Wolken ein Abgrund
wird, den nur Seine Hand umſpannet und
Sein Geiſt durchreget. Mich duͤnkt, hier iſt
Alles Tiefe und Geheimniß und ob es gleich
ſcheint, daß bei anſtrengender Arbeit wir die
Kraͤfte der Sinne und Lebensgeiſter naͤher ihren
Pforten und ihrer Tafel, dem Auge und der

Stirn;
n) Das Haar.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0071" n="68"/>
welch ein Finger von Flei&#x017F;ch und Blut die&#x017F;en Ab-<lb/>
grund inwendig ga&#x0364;hrender oder &#x017F;tiller Kra&#x0364;fte er-<lb/>
tappen an der a&#x0364;ußern <hi rendition="#fr">Rinde</hi>! Die Gottheit &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
hat die&#x017F;e heilige Ho&#x0364;he, den Olympus oder Libanon<lb/>
un&#x017F;ers Gewa&#x0364;ch&#x017F;es, als den Aufenthalt und die<lb/>
Werk&#x017F;ta&#x0364;te ihrer geheim&#x017F;ten Wu&#x0364;rkung mit einem<lb/>
Haine<note place="foot" n="n)">Das Haar.</note> bedeckt, mit dem &#x017F;ie &#x017F;on&#x017F;t auch alle ihre<lb/>
Geheimni&#x017F;&#x017F;e deckte. Man &#x017F;chauert, wenn man<lb/>
&#x017F;ich das Rund umfaßt denket, in dem eine Scho&#x0364;-<lb/>
pfung wohnet, in dem Ein Blitz, der da aus dem<lb/>
Chaos leuchtet, eine Welt &#x017F;chmu&#x0364;cken und erleuch-<lb/>
ten, oder eine Welt zer&#x017F;chmettern und verwu&#x0364;&#x017F;ten<lb/>
kann. Die Nordi&#x017F;chen Vo&#x0364;lker nannten den Him-<lb/>
mel <hi rendition="#fr">Ymers Haupt</hi> und tra&#x0364;umten ihn aus &#x017F;einem<lb/>
Scha&#x0364;del ent&#x017F;tanden; es i&#x017F;t wohl auch niemand,<lb/>
der, wenn die große und kleine Welt u&#x0364;berein&#x017F;tim-<lb/>
men und der kleine Men&#x017F;ch Begrif und Auszug<lb/>
der großen Scho&#x0364;pfung &#x017F;eyn &#x017F;oll, die Aehnlichkeit<lb/>
die&#x017F;es Gipfels, der Krone un&#x017F;ers Da&#x017F;eyns, an-<lb/>
derswo &#x017F;uchen werde, als dort, wo das unerma&#x0364;ß-<lb/>
liche Blau u&#x0364;ber Dun&#x017F;t und Wolken ein Abgrund<lb/>
wird, den nur <hi rendition="#fr">Seine</hi> Hand um&#x017F;pannet und<lb/><hi rendition="#fr">Sein</hi> Gei&#x017F;t durchreget. Mich du&#x0364;nkt, hier i&#x017F;t<lb/>
Alles Tiefe und Geheimniß und ob es gleich<lb/>
&#x017F;cheint, daß bei an&#x017F;trengender Arbeit wir die<lb/>
Kra&#x0364;fte der <hi rendition="#fr">Sinne</hi> und <hi rendition="#fr">Lebensgei&#x017F;ter</hi> na&#x0364;her ihren<lb/>
Pforten und ihrer Tafel, dem <hi rendition="#fr">Auge</hi> und der<lb/>
<fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#fr">Stirn</hi>;</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[68/0071] welch ein Finger von Fleiſch und Blut dieſen Ab- grund inwendig gaͤhrender oder ſtiller Kraͤfte er- tappen an der aͤußern Rinde! Die Gottheit ſelbſt hat dieſe heilige Hoͤhe, den Olympus oder Libanon unſers Gewaͤchſes, als den Aufenthalt und die Werkſtaͤte ihrer geheimſten Wuͤrkung mit einem Haine n) bedeckt, mit dem ſie ſonſt auch alle ihre Geheimniſſe deckte. Man ſchauert, wenn man ſich das Rund umfaßt denket, in dem eine Schoͤ- pfung wohnet, in dem Ein Blitz, der da aus dem Chaos leuchtet, eine Welt ſchmuͤcken und erleuch- ten, oder eine Welt zerſchmettern und verwuͤſten kann. Die Nordiſchen Voͤlker nannten den Him- mel Ymers Haupt und traͤumten ihn aus ſeinem Schaͤdel entſtanden; es iſt wohl auch niemand, der, wenn die große und kleine Welt uͤbereinſtim- men und der kleine Menſch Begrif und Auszug der großen Schoͤpfung ſeyn ſoll, die Aehnlichkeit dieſes Gipfels, der Krone unſers Daſeyns, an- derswo ſuchen werde, als dort, wo das unermaͤß- liche Blau uͤber Dunſt und Wolken ein Abgrund wird, den nur Seine Hand umſpannet und Sein Geiſt durchreget. Mich duͤnkt, hier iſt Alles Tiefe und Geheimniß und ob es gleich ſcheint, daß bei anſtrengender Arbeit wir die Kraͤfte der Sinne und Lebensgeiſter naͤher ihren Pforten und ihrer Tafel, dem Auge und der Stirn; n) Das Haar.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/71
Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/71>, abgerufen am 21.11.2024.