lichen Kinder, die hülflos um sie jammern und alle in ihren Schoos fliehen möchten, wie es die Jüngste thut -- sie kniet weit- und reichbeklei- det da, denn sie ist Mutter, und ihr Todesstar- res, gen Himmel gewandtes Gesicht, sammt der Tochter in ihrem Schooße, ist Ausdruck genug, auf den der Künstler hier würkte und nicht auf kalte nackte Körperschönheit. Eine Juno Matro- na unbekleidet, wäre dem entgegen, was sie ist, was sie selbst vor Paris war; Ehrfurcht soll sie einflößen, nicht Liebe. Das Haupt der Nym- phen und Vestalinnen, die unsterblich schöne Diana, muß bekleidet seyn, wie es ihr Stand und Cha- rakter gebietet, und die Kunst es zuläßt. Aber eine Gestalt der Schönheit, der Liebe, des Reizes, der Jugend, Bacchus und Apollo, Charis und Aphrodite, unter einem Mantel von Stein wäre Alles, was sie sind, was sie hier durch den Künstler seyn sollten, verschleiert und verlohren. Und man kann überhaupt den Grund- satz aunehmen, "daß wo der Griechische Künstler "auf Bildung und Darstellung eines schönen Kör- "pers ausgieng, wo ihm nichts Religiöses oder "Charakteristisches im Wege stand, wo feine Fi- "gur ein freies Geschöpf der Muse, ein sub- "stanzielles Kunstbild, kein Emblem, keine "historische Gruppe, sondern Bild der Schön- "heit seyn sollte, da bekleidete er nie, da ent-
"hüllte
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lichen Kinder, die huͤlflos um ſie jammern und alle in ihren Schoos fliehen moͤchten, wie es die Juͤngſte thut — ſie kniet weit- und reichbeklei- det da, denn ſie iſt Mutter, und ihr Todesſtar- res, gen Himmel gewandtes Geſicht, ſammt der Tochter in ihrem Schooße, iſt Ausdruck genug, auf den der Kuͤnſtler hier wuͤrkte und nicht auf kalte nackte Koͤrperſchoͤnheit. Eine Juno Matro- na unbekleidet, waͤre dem entgegen, was ſie iſt, was ſie ſelbſt vor Paris war; Ehrfurcht ſoll ſie einfloͤßen, nicht Liebe. Das Haupt der Nym- phen und Veſtalinnen, die unſterblich ſchoͤne Diana, muß bekleidet ſeyn, wie es ihr Stand und Cha- rakter gebietet, und die Kunſt es zulaͤßt. Aber eine Geſtalt der Schoͤnheit, der Liebe, des Reizes, der Jugend, Bacchus und Apollo, Charis und Aphrodite, unter einem Mantel von Stein waͤre Alles, was ſie ſind, was ſie hier durch den Kuͤnſtler ſeyn ſollten, verſchleiert und verlohren. Und man kann uͤberhaupt den Grund- ſatz aunehmen, „daß wo der Griechiſche Kuͤnſtler „auf Bildung und Darſtellung eines ſchoͤnen Koͤr- „pers ausgieng, wo ihm nichts Religioͤſes oder „Charakteriſtiſches im Wege ſtand, wo feine Fi- „gur ein freies Geſchoͤpf der Muſe, ein ſub- „ſtanzielles Kunſtbild, kein Emblem, keine „hiſtoriſche Gruppe, ſondern Bild der Schoͤn- „heit ſeyn ſollte, da bekleidete er nie, da ent-
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lichen Kinder, die huͤlflos um ſie jammern und
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Juͤngſte thut — ſie kniet weit- und reichbeklei-
det da, denn ſie iſt Mutter, und ihr Todesſtar-
res, gen Himmel gewandtes Geſicht, ſammt der
Tochter in ihrem Schooße, iſt Ausdruck genug,
auf den der Kuͤnſtler hier wuͤrkte und nicht auf
kalte nackte Koͤrperſchoͤnheit. Eine Juno Matro-
na unbekleidet, waͤre dem entgegen, was ſie iſt,
was ſie ſelbſt vor Paris war; Ehrfurcht ſoll ſie
einfloͤßen, nicht Liebe. Das Haupt der Nym-
phen und Veſtalinnen, die unſterblich ſchoͤne Diana,
muß bekleidet ſeyn, wie es ihr Stand und Cha-
rakter gebietet, und die Kunſt es zulaͤßt. Aber
eine Geſtalt der Schoͤnheit, der Liebe, des
Reizes, der Jugend, Bacchus und Apollo,
Charis und Aphrodite, unter einem Mantel von
Stein waͤre Alles, was ſie ſind, was ſie hier
durch den Kuͤnſtler ſeyn ſollten, verſchleiert und
verlohren. Und man kann uͤberhaupt den Grund-
ſatz aunehmen, „daß wo der Griechiſche Kuͤnſtler
„auf Bildung und Darſtellung eines ſchoͤnen Koͤr-
„pers ausgieng, wo ihm nichts Religioͤſes oder
„Charakteriſtiſches im Wege ſtand, wo feine Fi-
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[Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/36>, abgerufen am 27.07.2024.
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