Es ist erprobte Wahrheit, daß der tastende unzerstreute Blinde sich von den körperlichen Ei- genschaften viel vollständigere Begriffe sammelt, als der Sehende, der mit einem Sonnenstral hin- über gleitet. Mit seinem umfangenen, dunkeln, aber auch unendlich geübtern Gefühl, und mit der Methode, sich seine Begriffe langsam, treu und sicher zu ertasten, wird er über Form und lebendige Gegenwart der Dinge viel feiner urtheilen können, als dem Alles nur, wie ein Schatte, fliehet. Es hat blinde Wachsbildner gegeben, die die Sehen- den übertrafen, und ich habe noch nie vom Bei- spiel Eines fehlenden Sinnes gehört, der sich nicht durch andre ersetzt hätte, Gesicht durchs Gefühl, der Mangel an Lichtfarben durch tiefgeprägte dau- rende Gestalten. Es bleibt also wahr: "der "Körper, den das Auge sieht, ist nur Fläche, die "Fläche, die die Hand tastet, Körper".
Nur da wir von Kindheit auf unsre Sinne in Gemeinschaft und Verbindung brauchen: so ver- schlingen und gatten sich alle, insonderheit der gründlichste und der deutlichste der Sinne, Gefühl und Gesicht. Die schweren Begriffe, die wir uns langsam und mit Mühe ertappen, werden von Jdeen des Gesichts begleitet: dies klärt uns auf, was wir dort nur dunkel faßten, und so wird uns endlich geläufig, das mit einem Blick weg zu haben, was wir uns Anfangs langsam ertasten
musten.
Es iſt erprobte Wahrheit, daß der taſtende unzerſtreute Blinde ſich von den koͤrperlichen Ei- genſchaften viel vollſtaͤndigere Begriffe ſammelt, als der Sehende, der mit einem Sonnenſtral hin- uͤber gleitet. Mit ſeinem umfangenen, dunkeln, aber auch unendlich geuͤbtern Gefuͤhl, und mit der Methode, ſich ſeine Begriffe langſam, treu und ſicher zu ertaſten, wird er uͤber Form und lebendige Gegenwart der Dinge viel feiner urtheilen koͤnnen, als dem Alles nur, wie ein Schatte, fliehet. Es hat blinde Wachsbildner gegeben, die die Sehen- den uͤbertrafen, und ich habe noch nie vom Bei- ſpiel Eines fehlenden Sinnes gehoͤrt, der ſich nicht durch andre erſetzt haͤtte, Geſicht durchs Gefuͤhl, der Mangel an Lichtfarben durch tiefgepraͤgte dau- rende Geſtalten. Es bleibt alſo wahr: „der „Koͤrper, den das Auge ſieht, iſt nur Flaͤche, die „Flaͤche, die die Hand taſtet, Koͤrper„.
Nur da wir von Kindheit auf unſre Sinne in Gemeinſchaft und Verbindung brauchen: ſo ver- ſchlingen und gatten ſich alle, inſonderheit der gruͤndlichſte und der deutlichſte der Sinne, Gefuͤhl und Geſicht. Die ſchweren Begriffe, die wir uns langſam und mit Muͤhe ertappen, werden von Jdeen des Geſichts begleitet: dies klaͤrt uns auf, was wir dort nur dunkel faßten, und ſo wird uns endlich gelaͤufig, das mit einem Blick weg zu haben, was wir uns Anfangs langſam ertaſten
muſten.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0016"n="13"/><p>Es iſt erprobte Wahrheit, daß der taſtende<lb/>
unzerſtreute Blinde ſich von den koͤrperlichen Ei-<lb/>
genſchaften viel vollſtaͤndigere Begriffe ſammelt,<lb/>
als der Sehende, der mit einem Sonnenſtral hin-<lb/>
uͤber gleitet. Mit ſeinem umfangenen, dunkeln,<lb/>
aber auch unendlich geuͤbtern Gefuͤhl, und mit der<lb/>
Methode, ſich ſeine Begriffe langſam, treu und<lb/>ſicher zu ertaſten, wird er uͤber Form und lebendige<lb/>
Gegenwart der Dinge viel feiner urtheilen koͤnnen,<lb/>
als dem Alles nur, wie ein Schatte, fliehet. Es<lb/>
hat blinde Wachsbildner gegeben, die die Sehen-<lb/>
den uͤbertrafen, und ich habe noch nie vom Bei-<lb/>ſpiel Eines fehlenden Sinnes gehoͤrt, der ſich nicht<lb/>
durch andre erſetzt haͤtte, <hirendition="#fr">Geſicht</hi> durchs <hirendition="#fr">Gefuͤhl</hi>,<lb/>
der Mangel an Lichtfarben durch tiefgepraͤgte dau-<lb/>
rende <hirendition="#fr">Geſtalten</hi>. Es bleibt alſo wahr: „der<lb/>„Koͤrper, den das Auge ſieht, iſt nur Flaͤche, die<lb/>„Flaͤche, die die Hand taſtet, Koͤrper„.</p><lb/><p>Nur da wir von Kindheit auf unſre Sinne in<lb/>
Gemeinſchaft und Verbindung brauchen: ſo ver-<lb/>ſchlingen und gatten ſich alle, inſonderheit der<lb/>
gruͤndlichſte und der deutlichſte der Sinne, <hirendition="#fr">Gefuͤhl</hi><lb/>
und <hirendition="#fr">Geſicht</hi>. Die ſchweren <hirendition="#fr">Begriffe</hi>, die wir<lb/>
uns langſam und mit Muͤhe ertappen, werden von<lb/><hirendition="#fr">Jdeen</hi> des Geſichts begleitet: dies klaͤrt uns auf,<lb/>
was wir dort nur dunkel faßten, und ſo wird uns<lb/>
endlich gelaͤufig, das mit einem Blick weg zu<lb/>
haben, was wir uns Anfangs langſam ertaſten<lb/><fwplace="bottom"type="catch"><hirendition="#fr">muſten</hi>.</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[13/0016]
Es iſt erprobte Wahrheit, daß der taſtende
unzerſtreute Blinde ſich von den koͤrperlichen Ei-
genſchaften viel vollſtaͤndigere Begriffe ſammelt,
als der Sehende, der mit einem Sonnenſtral hin-
uͤber gleitet. Mit ſeinem umfangenen, dunkeln,
aber auch unendlich geuͤbtern Gefuͤhl, und mit der
Methode, ſich ſeine Begriffe langſam, treu und
ſicher zu ertaſten, wird er uͤber Form und lebendige
Gegenwart der Dinge viel feiner urtheilen koͤnnen,
als dem Alles nur, wie ein Schatte, fliehet. Es
hat blinde Wachsbildner gegeben, die die Sehen-
den uͤbertrafen, und ich habe noch nie vom Bei-
ſpiel Eines fehlenden Sinnes gehoͤrt, der ſich nicht
durch andre erſetzt haͤtte, Geſicht durchs Gefuͤhl,
der Mangel an Lichtfarben durch tiefgepraͤgte dau-
rende Geſtalten. Es bleibt alſo wahr: „der
„Koͤrper, den das Auge ſieht, iſt nur Flaͤche, die
„Flaͤche, die die Hand taſtet, Koͤrper„.
Nur da wir von Kindheit auf unſre Sinne in
Gemeinſchaft und Verbindung brauchen: ſo ver-
ſchlingen und gatten ſich alle, inſonderheit der
gruͤndlichſte und der deutlichſte der Sinne, Gefuͤhl
und Geſicht. Die ſchweren Begriffe, die wir
uns langſam und mit Muͤhe ertappen, werden von
Jdeen des Geſichts begleitet: dies klaͤrt uns auf,
was wir dort nur dunkel faßten, und ſo wird uns
endlich gelaͤufig, das mit einem Blick weg zu
haben, was wir uns Anfangs langſam ertaſten
muſten.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/16>, abgerufen am 27.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.