Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778.

Bild:
<< vorherige Seite

unübersehbarer, nur von außen und gleichsam
nie ganz zu ertastender Gestalt ist ja das ei-
gentliche Bild ihrer Götter und Herren, wie es
sich nachher nicht die Hand, sondern der Geist,
die erschütterte, durchregte Einbildungskraft
sammlet. Alles Unendliche dünkt uns erha-
ben
, und jedes Erhabne muß gewissermaaße
Unendlichkeit, ein Nachbild jener Erscheinung
gewähren, "da der Geist vorbei ging, und die
"Haare grauseten, ein Bild stand dem Schauen-
"den vor Augen, und er kannte dessen Gestalt nicht
"und hörte eine Stimme". Bramma verlang-
te das Haupt des höchsten Gottes Jxora zu se-
hen, und flog so hoch er konnte. Da begegne-
ten ihm drei Blumen von Jxoras Haupt und
fragten ihn, wohin er wollte? Er sagte, daß er
gehe, Jxoras Haupt zu sehen und die Blumen
antworteten ihm: mache dir keine vergebliche
Mühe, denn ob wir wohl noch dreimal so lang
geflogen wären, von der Stunde an da wir von
Jxoras Haupt niederfuhren, so würden wir
nicht so weit seyn, daß wir seine Füße sehen
möchten. Und Bramma ließ ab und bat die
Blumen, Jxora zu sagen, wie ihn schwindle,
höher zu fliegen. Vistnum begehrte seine Füße
zu sehen und grub so tief in die Erde, bis er
zur großen Schlange des Abgrunds kam und
Schreckenvoll zurückkehren muste, und also bei-

de
H 5

unuͤberſehbarer, nur von außen und gleichſam
nie ganz zu ertaſtender Geſtalt iſt ja das ei-
gentliche Bild ihrer Goͤtter und Herren, wie es
ſich nachher nicht die Hand, ſondern der Geiſt,
die erſchuͤtterte, durchregte Einbildungskraft
ſammlet. Alles Unendliche duͤnkt uns erha-
ben
, und jedes Erhabne muß gewiſſermaaße
Unendlichkeit, ein Nachbild jener Erſcheinung
gewaͤhren, „da der Geiſt vorbei ging, und die
„Haare grauſeten, ein Bild ſtand dem Schauen-
„den vor Augen, und er kannte deſſen Geſtalt nicht
„und hoͤrte eine Stimme„. Bramma verlang-
te das Haupt des hoͤchſten Gottes Jxora zu ſe-
hen, und flog ſo hoch er konnte. Da begegne-
ten ihm drei Blumen von Jxoras Haupt und
fragten ihn, wohin er wollte? Er ſagte, daß er
gehe, Jxoras Haupt zu ſehen und die Blumen
antworteten ihm: mache dir keine vergebliche
Muͤhe, denn ob wir wohl noch dreimal ſo lang
geflogen waͤren, von der Stunde an da wir von
Jxoras Haupt niederfuhren, ſo wuͤrden wir
nicht ſo weit ſeyn, daß wir ſeine Fuͤße ſehen
moͤchten. Und Bramma ließ ab und bat die
Blumen, Jxora zu ſagen, wie ihn ſchwindle,
hoͤher zu fliegen. Viſtnum begehrte ſeine Fuͤße
zu ſehen und grub ſo tief in die Erde, bis er
zur großen Schlange des Abgrunds kam und
Schreckenvoll zuruͤckkehren muſte, und alſo bei-

de
H 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0124" n="121"/><hi rendition="#fr">unu&#x0364;ber&#x017F;ehbarer</hi>, nur von außen und gleich&#x017F;am<lb/>
nie <hi rendition="#fr">ganz zu erta&#x017F;tender Ge&#x017F;talt</hi> i&#x017F;t ja das ei-<lb/>
gentliche Bild ihrer Go&#x0364;tter und Herren, wie es<lb/>
&#x017F;ich nachher nicht die Hand, &#x017F;ondern der Gei&#x017F;t,<lb/>
die er&#x017F;chu&#x0364;tterte, durchregte Einbildungskraft<lb/>
&#x017F;ammlet. Alles <hi rendition="#fr">Unendliche</hi> du&#x0364;nkt uns <hi rendition="#fr">erha-<lb/>
ben</hi>, und jedes Erhabne muß gewi&#x017F;&#x017F;ermaaße<lb/><hi rendition="#fr">Unendlichkeit</hi>, ein Nachbild jener Er&#x017F;cheinung<lb/>
gewa&#x0364;hren, &#x201E;da der Gei&#x017F;t vorbei ging, und die<lb/>
&#x201E;Haare grau&#x017F;eten, ein Bild &#x017F;tand dem Schauen-<lb/>
&#x201E;den vor Augen, und er kannte de&#x017F;&#x017F;en Ge&#x017F;talt nicht<lb/>
&#x201E;und ho&#x0364;rte eine Stimme&#x201E;. Bramma verlang-<lb/>
te das Haupt des ho&#x0364;ch&#x017F;ten Gottes Jxora zu &#x017F;e-<lb/>
hen, und flog &#x017F;o hoch er konnte. Da begegne-<lb/>
ten ihm drei Blumen von Jxoras Haupt und<lb/>
fragten ihn, wohin er wollte? Er &#x017F;agte, daß er<lb/>
gehe, Jxoras Haupt zu &#x017F;ehen und die Blumen<lb/>
antworteten ihm: mache dir keine vergebliche<lb/>
Mu&#x0364;he, denn ob wir wohl noch dreimal &#x017F;o lang<lb/>
geflogen wa&#x0364;ren, von der Stunde an da wir von<lb/>
Jxoras Haupt niederfuhren, &#x017F;o wu&#x0364;rden wir<lb/>
nicht &#x017F;o weit &#x017F;eyn, daß wir &#x017F;eine Fu&#x0364;ße &#x017F;ehen<lb/>
mo&#x0364;chten. Und Bramma ließ ab und bat die<lb/>
Blumen, Jxora zu &#x017F;agen, wie ihn &#x017F;chwindle,<lb/>
ho&#x0364;her zu fliegen. <hi rendition="#fr">Vi&#x017F;tnum</hi> begehrte &#x017F;eine Fu&#x0364;ße<lb/>
zu &#x017F;ehen und grub &#x017F;o tief in die Erde, bis er<lb/>
zur großen Schlange des Abgrunds kam und<lb/>
Schreckenvoll zuru&#x0364;ckkehren mu&#x017F;te, und al&#x017F;o bei-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">H 5</fw><fw place="bottom" type="catch">de</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[121/0124] unuͤberſehbarer, nur von außen und gleichſam nie ganz zu ertaſtender Geſtalt iſt ja das ei- gentliche Bild ihrer Goͤtter und Herren, wie es ſich nachher nicht die Hand, ſondern der Geiſt, die erſchuͤtterte, durchregte Einbildungskraft ſammlet. Alles Unendliche duͤnkt uns erha- ben, und jedes Erhabne muß gewiſſermaaße Unendlichkeit, ein Nachbild jener Erſcheinung gewaͤhren, „da der Geiſt vorbei ging, und die „Haare grauſeten, ein Bild ſtand dem Schauen- „den vor Augen, und er kannte deſſen Geſtalt nicht „und hoͤrte eine Stimme„. Bramma verlang- te das Haupt des hoͤchſten Gottes Jxora zu ſe- hen, und flog ſo hoch er konnte. Da begegne- ten ihm drei Blumen von Jxoras Haupt und fragten ihn, wohin er wollte? Er ſagte, daß er gehe, Jxoras Haupt zu ſehen und die Blumen antworteten ihm: mache dir keine vergebliche Muͤhe, denn ob wir wohl noch dreimal ſo lang geflogen waͤren, von der Stunde an da wir von Jxoras Haupt niederfuhren, ſo wuͤrden wir nicht ſo weit ſeyn, daß wir ſeine Fuͤße ſehen moͤchten. Und Bramma ließ ab und bat die Blumen, Jxora zu ſagen, wie ihn ſchwindle, hoͤher zu fliegen. Viſtnum begehrte ſeine Fuͤße zu ſehen und grub ſo tief in die Erde, bis er zur großen Schlange des Abgrunds kam und Schreckenvoll zuruͤckkehren muſte, und alſo bei- de H 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/124
Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/124>, abgerufen am 23.11.2024.