Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778.

Bild:
<< vorherige Seite

Wozu aber Alles, was sich, wenn mein Satz
wahr ist, jeder selbst sagen kann und wird.



Jch schließe mit einigen allgemeinen Anmer-
kungen über mißverstandne, folglich scharfbestrit-
tene Gegenden der Kunstgeschichte.

1. Die bildende Kunst, sobald sie Kunst wird
und sich von signis, d. i. religiösen Zeichen und
Denkmahlen, Klötzen, Hölzern, Steinhaufen,
Pfeilern, Säulen entfernt, muß nothwendig zu-
erst ins Große, Erhabene und Ueberspannte
gehen, was Schauer und Ehrfurcht, nicht Liebe
und Mitgefühl erreget. Bei Kindern, Blin-
den, und Sehendwerdenden ists noch also, und
wird, was auch die Philosophie predige, immer
also bleiben. Jener Blindgewesene sah Men-
schen, als sähe er Bäume: Cheseldens Blindem
Lagen alle Figuren als eine ungeheure Bilderta-
fel sich bewegend dicht vorm Auge: aller erste
Anblick und Eindruck, den Kinder und Unerfahr-
ne von einer Statue haben, ist gerade wie Dä-
dals Säulen beschrieben werden. Ehrfurcht,
die beinah Schrecken wird und Schauer, Ge-
fühl, als ob sie wandelten und lebten, so gera-
de und viereckt sie dem Auge des Künstlers da-
stehn mögen, sind die ersten Eindrücke der Kunst,
zumal bei einem halbwilden, d. i. noch ganz le-

bendi-
H 3

Wozu aber Alles, was ſich, wenn mein Satz
wahr iſt, jeder ſelbſt ſagen kann und wird.



Jch ſchließe mit einigen allgemeinen Anmer-
kungen uͤber mißverſtandne, folglich ſcharfbeſtrit-
tene Gegenden der Kunſtgeſchichte.

1. Die bildende Kunſt, ſobald ſie Kunſt wird
und ſich von ſignis, d. i. religioͤſen Zeichen und
Denkmahlen, Kloͤtzen, Hoͤlzern, Steinhaufen,
Pfeilern, Saͤulen entfernt, muß nothwendig zu-
erſt ins Große, Erhabene und Ueberſpannte
gehen, was Schauer und Ehrfurcht, nicht Liebe
und Mitgefuͤhl erreget. Bei Kindern, Blin-
den, und Sehendwerdenden iſts noch alſo, und
wird, was auch die Philoſophie predige, immer
alſo bleiben. Jener Blindgeweſene ſah Men-
ſchen, als ſaͤhe er Baͤume: Cheſeldens Blindem
Lagen alle Figuren als eine ungeheure Bilderta-
fel ſich bewegend dicht vorm Auge: aller erſte
Anblick und Eindruck, den Kinder und Unerfahr-
ne von einer Statue haben, iſt gerade wie Daͤ-
dals Saͤulen beſchrieben werden. Ehrfurcht,
die beinah Schrecken wird und Schauer, Ge-
fuͤhl, als ob ſie wandelten und lebten, ſo gera-
de und viereckt ſie dem Auge des Kuͤnſtlers da-
ſtehn moͤgen, ſind die erſten Eindruͤcke der Kunſt,
zumal bei einem halbwilden, d. i. noch ganz le-

bendi-
H 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0120" n="117"/>
Wozu aber Alles, was &#x017F;ich, wenn mein Satz<lb/>
wahr i&#x017F;t, jeder &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;agen kann und wird.</p><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <p>Jch &#x017F;chließe mit einigen allgemeinen Anmer-<lb/>
kungen u&#x0364;ber mißver&#x017F;tandne, folglich &#x017F;charfbe&#x017F;trit-<lb/>
tene Gegenden der Kun&#x017F;tge&#x017F;chichte.</p><lb/>
        <p>1. Die bildende Kun&#x017F;t, &#x017F;obald &#x017F;ie Kun&#x017F;t wird<lb/>
und &#x017F;ich von <hi rendition="#aq">&#x017F;ignis,</hi> d. i. religio&#x0364;&#x017F;en Zeichen und<lb/>
Denkmahlen, Klo&#x0364;tzen, Ho&#x0364;lzern, Steinhaufen,<lb/>
Pfeilern, Sa&#x0364;ulen entfernt, muß nothwendig zu-<lb/>
er&#x017F;t ins <hi rendition="#fr">Große, Erhabene</hi> und <hi rendition="#fr">Ueber&#x017F;pannte</hi><lb/>
gehen, was Schauer und Ehrfurcht, nicht Liebe<lb/>
und Mitgefu&#x0364;hl erreget. Bei Kindern, Blin-<lb/>
den, und Sehendwerdenden i&#x017F;ts noch al&#x017F;o, und<lb/>
wird, was auch die Philo&#x017F;ophie predige, immer<lb/>
al&#x017F;o bleiben. Jener Blindgewe&#x017F;ene &#x017F;ah Men-<lb/>
&#x017F;chen, als &#x017F;a&#x0364;he er Ba&#x0364;ume: Che&#x017F;eldens Blindem<lb/>
Lagen alle Figuren als eine ungeheure Bilderta-<lb/>
fel &#x017F;ich bewegend dicht vorm Auge: aller er&#x017F;te<lb/>
Anblick und Eindruck, den Kinder und Unerfahr-<lb/>
ne von einer Statue haben, i&#x017F;t gerade wie Da&#x0364;-<lb/>
dals Sa&#x0364;ulen be&#x017F;chrieben werden. <hi rendition="#fr">Ehrfurcht,</hi><lb/>
die beinah <hi rendition="#fr">Schrecken</hi> wird und <hi rendition="#fr">Schauer,</hi> Ge-<lb/>
fu&#x0364;hl, als ob &#x017F;ie <hi rendition="#fr">wandelten</hi> und <hi rendition="#fr">lebten,</hi> &#x017F;o gera-<lb/>
de und viereckt &#x017F;ie dem Auge des Ku&#x0364;n&#x017F;tlers da-<lb/>
&#x017F;tehn mo&#x0364;gen, &#x017F;ind die er&#x017F;ten Eindru&#x0364;cke der Kun&#x017F;t,<lb/>
zumal bei einem halbwilden, d. i. noch ganz le-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">H 3</fw><fw place="bottom" type="catch">bendi-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[117/0120] Wozu aber Alles, was ſich, wenn mein Satz wahr iſt, jeder ſelbſt ſagen kann und wird. Jch ſchließe mit einigen allgemeinen Anmer- kungen uͤber mißverſtandne, folglich ſcharfbeſtrit- tene Gegenden der Kunſtgeſchichte. 1. Die bildende Kunſt, ſobald ſie Kunſt wird und ſich von ſignis, d. i. religioͤſen Zeichen und Denkmahlen, Kloͤtzen, Hoͤlzern, Steinhaufen, Pfeilern, Saͤulen entfernt, muß nothwendig zu- erſt ins Große, Erhabene und Ueberſpannte gehen, was Schauer und Ehrfurcht, nicht Liebe und Mitgefuͤhl erreget. Bei Kindern, Blin- den, und Sehendwerdenden iſts noch alſo, und wird, was auch die Philoſophie predige, immer alſo bleiben. Jener Blindgeweſene ſah Men- ſchen, als ſaͤhe er Baͤume: Cheſeldens Blindem Lagen alle Figuren als eine ungeheure Bilderta- fel ſich bewegend dicht vorm Auge: aller erſte Anblick und Eindruck, den Kinder und Unerfahr- ne von einer Statue haben, iſt gerade wie Daͤ- dals Saͤulen beſchrieben werden. Ehrfurcht, die beinah Schrecken wird und Schauer, Ge- fuͤhl, als ob ſie wandelten und lebten, ſo gera- de und viereckt ſie dem Auge des Kuͤnſtlers da- ſtehn moͤgen, ſind die erſten Eindruͤcke der Kunſt, zumal bei einem halbwilden, d. i. noch ganz le- bendi- H 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/120
Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/120>, abgerufen am 29.03.2024.